
Independent
Kleine Verlage, große Bücher – erkunden Sie die Vielfalt der Verlagslandschaft abseits des Mainstreams.
Buchempfehlung
Überall Welt
Klug & sprachtrunken: Volker Sielaffs meisterhafte Lyrik, zum Selberlesen und Nachhören.
Mit dem Langgedicht „Mythische Aubergine“, atemloser Auftaktgesang zu seinem neuen Band „Barfuß vor Penelope“, ist dem 1966 in der Lausitz geborenen, heute in Dresden lebenden Volker Sielaff so etwas wie ein Text der Stunde geglückt: Eine weltumarmende Liebeserklärung an all die Menschen, Dinge und Ideen, die unser Leben eigentlich ausmachen – von den großen Geistern aus Dichtkunst oder Pop bis zum profanen, nicht kalauerfreien Alltag: „Liebe zu Labsal, zu hanebüchen. / Und zu Simone Lepinat aus Lychen. Die ich auf einer Tramp-Tour küsste, / wie lang ist das her, wenn ich’s nur wüsste. Liebe zu alten // Bleiglasfenstern, zu einer Aufführung von Ibsens Gespenstern / mit Inge Keller und Ulrich Mühe, Liebe zu Reisschnaps und klarer Brühe.“ Wer die ungeheure Sogwirkung dieser großen, über zehn Seiten rhythmisch pulsierende Hymne der Welt- und Sprachbegeisterung live erleben will, ist mit der von der Ausnahme-Schauspielerin Sandra Hüller eingelesenen Single-Auskopplung aus Sielaffs Buch bestens bedient.

Volker Sielaff: Barfuß vor Penelope. Gedichte
Edition Azur, 112 Seiten, 19,- €
Die 55 Gedichte in „Barfuß vor Penelope“, verteilt auf sechs Kapitel, zeigen Sielaff auch formal als Meister der Verwandlung. In „Die helle und die dunkle Seite“ etwa vermisst der Autor in betörend einfachen, liedhaften Strophen die Kontinente der Liebe. „Swann“ präsentiert biografische Skizzen zu Hugo Ball, Kasimir Malewitsch oder Joseph Brodsky. In „Oberlausitz Wagenspur“ entführt uns der Dichter schließlich in die Lebenswelt seiner Kindheit und poetischen Initiation. „Ich bin / in hohem Bogen / ein Diesseitiger!“, ruft uns Volker Sielaff zu. Wer – Augen, Ohren und Herz weit offen – das Staunen auch in Zeiten drohender Erstarrung nicht verlernt hat, wird ihm atemlos folgen.

Volker Sielaff: Mystische Aubergine
Gelesen von Sandra Hüller. Edition Azur, als MP3-Download, 1,99 €
Text: Nils Kahlefendt
3 Lesetipps

Wanderer in finsteren Zeiten
Christian Schulteisz: Wense. Roman
Berenberg Verlag, 128 Seiten, 22,- €
Christian Schulteisz: Wense. Roman
Berenberg Verlag, 128 Seiten, 22,- €
1932, ein Jahr vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, beginnt der kauzige Musiker, Schriftsteller und Naturphilosoph Hans Jürgen von der Wense (1894–1966) Deutschlands Mitte zu erwandern. 42.000 Kilometer, also einmal rund um den Globus, soll er so zurückgelegt haben. Wie überlebt ein freier Geist in finsteren Zeiten? In Christian Schulteisz’ sprachmächtigem, bis zum letzten Komma durchkomponierten Romandebüt erleben wir Wense als existenziell Gefährdeten, der es wohl auch in heutigen Zeiten stetiger Selbstoptimierung nicht leicht hätte: „Er steht am Rand, wie er immer steht, immer auf der Kippe.“

Zurück zum Beton
Viken Berberian, Yann Kebbi: Marode Substanz, Genosse!
Graphic Novel. Übersetzt von Christoph Schuler.
Edition Moderne, 324 Seiten, 39,- €
Viken Berberian, Yann Kebbi: Marode Substanz, Genosse!
Graphic Novel. Übersetzt von Christoph Schuler.
Edition Moderne, 324 Seiten, 39,- €
„Der Kerl hat Eier wie Abrißbirnen“, heißt es über den Stararchitekten mit dem sprechenden Spitznamen Mister Beton, der die armenische Hauptstadt Jerewan von ihrer kommunistischen Vergangenheit befreien will. Fünf Jahre haben der New Yorker Autor Viken Berberian und der in Paris lebende Künstler Yann Kebbi an dieser wilden Satire auf Bauwesen, Fortschrittseifer und den Umgang mit Kulturgütern gearbeitet. Herausgekommen ist ein aufregend gezeichneter, witziger und dabei hochpolitischer Architektur-Comic. Less is more? Ach was: Mehr ist mehr!

Wer bin ich?
Anke Stelling: Grundlagenforschung. Erzählungen
Verbrecher Verlag, 170 Seiten, 19,- €
Anke Stelling: Grundlagenforschung. Erzählungen
Verbrecher Verlag, 170 Seiten, 19,- €
„Nehmen wir das Leben und teilen es in drei Bereiche: Liebe, Arbeit, Essen & Trinken. Wobei Essen & Trinken auch Trinken & Rauchen heißen könnte, Arbeit auch Kunst und Liebe vielleicht Freizeitvergnügen.“ Das ist, unverkennbar, der Sound von Anke Stelling, die 2018 mit „Schäfchen im Trockenen“ den Preis der Leipziger Buchmesse abräumte. Bitterböse, aber in hohem Maße erkenntnisstiftend. Im Erzählband „Grundlagenforschung“ ist der literarische Kosmos der Desillusionierungs-Expertin Stelling wie in einer Nussschale zu entdecken. „Das Feld ist abgesteckt, im Text wie im Leben. Wer weiterblättern will, soll das tun; wer meint, die mittleren Jahre erreichen ihn nicht, hat sich getäuscht.“ Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Texte: Nils Kahlefendt
Im Porträt: Kaśka Bryla
Wild Thing
Littérature engagée 2.0: Mit ihrem Roman „Roter Affe“ legt die DLL-Absolventin Kaśka Bryla eines der spannendsten Debüts der Saison vor. Ein Porträt.

„Ich würde mein Debüt lieber nicht in einem Pandemie-Jahr haben“, sagt Kaśka Bryla. „Nun gilt es, das Beste daraus zu machen.“ Auf dem Freisitz des Leipziger Cafés mit dem für diese Geschichte nicht unpassenden Namen „Das Kapital“ lässt sich die neue Normalität aushalten, und auch für die junge Autorin läuft es, trotz Corona, ziemlich gut: Eben sind die ersten Rezensionen erschienen; in Wien, Leipzig und Berlin wird es Releases ihres Romans „Roter Affe“ geben – ein Road Movie zwischen zwei Buchdeckeln mit dem vermutlich ungewöhnlichsten Personal der Saison: Ein in Moabit einsitzender mehrfacher Mörder und Vergewaltiger, eine Gefängnispsychologin und deren Kindheitsfreund Tomek, der mit seiner suizidgefährdeten Freundin verschwunden ist, dazu eine hochtalentierte Hackerin, die Tomeks Smartphone in Warschau ortet.
Vor allem Ruth, die Hackerin, und die Psychologin Mania sind starke, komplex gezeichnete Frauengestalten, wie man sie in einem Romanerstling nicht unbedingt erwartet. Das Kaśka Bryla keine Angst vor den großen Fragen von Schuld und Vergebung, Gut und Böse hat, mag damit zusammenhängen, dass sie bis zu diesem ersten Buch einen langen Weg gegangen ist, einen, der bei anderen leicht für zwei Leben reicht.

Kaśka Bryla: Roter Affe
Residenz, 232 Seiten, 22,- €
Geboren in Wien, ist Kaśka Bryla zwischen Wien und Warschau aufgewachsen; ihr Studium der Volkswirtschaft verdiente sie sich mit einem Recherche-Job beim Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer der Nationalsozialismus in Österreich. Warum Ökonomie? „Ich wollte mir beweisen, dass ich diese Art von Denken durchziehen kann“, sagt Bryla. „Ich wollte die Welt auf diese Art verstehen können.“ Der Tod ihres Vaters, der im Zweiten Weltkrieg in der Armia Krajowa, der polnischen Heimatarmee, gekämpft hatte und nach seiner Pensionierung in Österreich in Polen eine eigene Firma aufbaute, war ein Kipp-Punkt in Kaśka Brylas Leben: Mit Anfang 30 entschloss sie sich, endlich dass zu verwirklichen, was sie schon immer tun wollte: Geschichten erzählen. Weil der Ingenieurs-Tochter instinktiv klar war, dass das zu großen Teilen Handwerk ist, schrieb sie sich am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) ein.
Dass der Literaturbetrieb nicht die beste aller möglichen Welten (oder wie Bryla sagt: „nicht so cool“) ist, war eine immerhin zu erwartende Erkenntnis – bei der eine Frau wie sie nicht stehenbleiben wollte. „Politisches Engagement sollte Teil des Lebens sein, damit bin ich durch meinen Vater groß geworden.“ 2015 gehörte Bryla zu den Gründerinnen der im DLL-Umfeld entwickelten Zeitschrift „PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch schreiben“. Die buchdicke PS erscheint seither einmal pro Jahr. Anfangs belächelt, gehört sie inzwischen zu den spannendsten Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum. „Politisch Schreiben meint, Fragen nach Zusammenhängen und Abhängigkeiten zu stellen“, heißt es in den jeder Ausgabe voranstehenden Grund-Sätzen, und: „Der Literaturbetrieb ist kein neutrales System.“
Da es von Anfang an zum Selbstverständnis der PS-Gründerinnen gehörte, auch auf Menschen und Orte zuzugehen, die gemeinhin „an den Rand der Gesellschaft geschoben“ werden, war es kein Zufall, dass Bryla ab 2016 Kurse zu Kreativem Schreiben auch an der JVA Leipzig hielt. Die sechste PS-Ausgabe im Corona-Jahr 2020 beschäftigt sich nun mit den Facetten des Prosadebüts, und hier schließt sich der Kreis dieser Geschichte: Was geschieht, wenn ein Autor, eine Autorin die literarische Bühne betritt? Und was sollte geschehen? Kaśka Bryla kann der explosiven Gemengelage aus Hype und Druck einigermaßen gelassen begegnen. Sie schreibt seit einem halben Jahr an ihrem zweiten Buch. Und wird, wenn ihr alles zu viel wird in Leipzig und Wien, ihren Heldinnen Ruth und Mania hinterherfahren, Richtung Warschau.
Text: Nils Kahlefendt
Im Gespräch: Walter Famler
„Die Beatles sind ein absolutes Nachkriegsphänomen!“
Walter Famler, Übersetzer einer brandneuen Graphic Novel zu Leben und Werk der Beatles, über seine eigene Geschichte mit den Fab Four – und darüber, was das Herausgeben einer Zeitschriften mit dem Spielen in einer Band vergleichbar macht.

© nk
Herr Famler, zur Auflösung der Beatles waren Sie zwölf Jahre alt, seither sind sie Fan. Dieser Übersetzungs-Job hat lange auf Sie gewartet, oder?
Walter Famler: Ich habe Englisch gelernt über Beatles-Texte. Das war der einzige Grund für mich damals, als einer, den es aus einem proletarischen Milieu ans Gymnasium verschlagen hat. Wobei ich viele Texte bis heute nicht verstehe. Ehrlich: Wer versteht, zum Beispiel, „Lucy in the Sky with Diamonds“? Ich hatte die zweite Ausgabe des 1972 bei dtv erschienenen „Beatles-Songbook“. Das war phänomenal illustriert und hat mir eigentlich einen Zugang verschafft zu moderner Kunst. Rätselhaft, dass es so eine Graphic Novel nicht schon früher gegeben hat; die Beatles selbst haben ja sehr stark mit Bildern und Bildsprachen gearbeitet. Ihr legendärer Produzent George Martin meinte ja mal, dass die Beatles „Musik malen“. Er hat recht: Viele Beatles-Songs sind auch tolle Sound-Gemälde.
Sie sind ein wandelndes Beatles-Lexikon. Haben Sie selbst während der Arbeit für sich Neues entdeckt?
Es war eine großartige Sache, gerade in der Zeit des Lockdown, wo mein Hyperaktivismus einigermaßen eingeschränkt war. Ich habe alle Beatles-Alben wieder gehört – und zwar von der Platte! Ich habe Bücher wiederentdeckt, die ich vor Jahrzehnten gelesen habe, etwa George Martins „The Summer of Love“ über die Entstehung von „Sgt. Pepper“... Es gibt natürlich ganze Bibliotheken über die Beatles! Insofern ist es erstaunlich, dass ausgerechnet eine Graphic Novel es schafft, ganz verschiedene Bilder der Beatles, die jeder von uns im Kopf hat und in sich trägt, auf sublime Weise zu erweitern und bunter zu machen.

Michels Mabel, Gaet’s: The Beatles. Graphic Novel
Übersetzt und mit einem Nachwort von Walter Famler. Bahoe Books, 224 Seiten, 25,- €
Bei mir geschah es am Röhrenempfänger in Großmutters Küche. Wie sind die Beatles in Ihr Leben getreten?
Ich habe als Kind zwei große Privilegien gehabt: Meine sehr junge Mutter war sowohl Elvis-Presley- als auch Beatles-Fan. Und es gab einzelne Elvis-Presley- und Beatles-Platten, weil meine Mutter, die mehrere Nebenjobs betrieben hat mit der Großmutter, auch Vertreterin der „Buchgemeinschaft Donauland“ war. Das heißt, schon im Volksschulalter konnte ich die Scheiben auf dem Phillips-Kofferplattenspieler meiner Mutter hören. In den Jukeboxen hat es das eher nicht gegeben. Als Fahrschüler musste ich täglich 45 Minuten im Bus sitzen – und da waren zwei, drei Ältere, die ich überreden konnte, mir „Rubber Soul“ und „Revolver“ zum Überspielen auf Kassettenrekorder zu leihen. Später dann das „Weiße Album“ – das lief natürlich hoch und runter in Phasen der Verliebtheit und der Melancholie und der Depressionen.
Einen Bahö machen, das steht im Österreichischen für Aufruhr, Tumult, Lärm – der Verlag aus dem Spektrum der undogmatischen Linken ist für seine Bücher mit politischem Anspruch bekannt. Wie passt die popkulturelle Wende ins Programm?
Natürlich haben die Beatles den größten Bahoe gemacht, den ich mir überhaupt vorstellen kann. Die Beatles sind ein absolutes Nachkriegsphänomen! Die sind in einer bombardierten, von Deutschen bombardierten und zerstörten Stadt aufgewachsen, buchstäblich im Keller! Ringo Starr ist sogar während eines Bombardements zur Welt gekommen! Vielleicht ist er deshalb so ein genialer Schlagzeuger; da hört man immer noch die Bomben rütteln, wenn man seine Bass-Drum hört. Die Jungs waren der erste Jahrgang, der befreit war vom Militärdienst. Deswegen konnten sie nach Hamburg gehen, wieder eine zerstörte Stadt! Die Beatles sind weggegangen, aus dem klassischen Rock’n’Roll, aus der Nachkriegsgesellschaft, und haben uns mitgenommen. Keiner weiß, wohin uns die Reise noch führen wird.

© nk
Ist das Herausgeben einer Zeitschrift mit dem Spielen in einer Band vergleichbar?
Es gibt sicher Parallelitäten. Ich bin aus den Bands, die ich als 15jähriger in Oberösterreich gründete, immer rausgefallen, weil es dort – über die Volksmusik – so ein großes musikalisches Potenzial gab. Die Musiker waren einfach gut und ich mit Abstand der schlechteste. Ich wollte aber immer Schlagzeuger sein; ich war als Beatles-Fan nicht nur von John Lennon, dem intellektuellen Kopf, begeistert, sondern ich war auch elektrisiert von Ringo Starr und seinem glänzenden Ludwig-Schlagzeug. Ich wollte Schlagzeuger in einer Beat-Band sein und habe das auch partiell geschafft. Nur gab’s dann rasch einen besseren Schlagzeuger, ich wurde an den Bass versetzt. Dann kam ein besserer Bassist, und ich durfte bei Bob-Dylan-Nummern noch ein bisschen die Mundharmonika blasen. Dann habe ich den ersten Auftritt beim Sportfest des SV Bad Hall organisiert. Aber beim Verteilen der Gage meinte die Band, sie bräuchte keinen Manager. Erst relativ spät, mit 30, habe ich einen Lehrer gefunden, der mein Untalent entwickeln konnte. Alte Charlie-Watts-Schule. Und aus der Band, die ich Anfang der 90er Jahre gegründet habe, „The Roaring Mopeds“, konnte man mich dann auch nicht mehr rausschmeißen, weil ich unseren Probenraum gebaut hatte. Das Zusammenspiel in so einer Band funktioniert nach anderen Mustern als das Zusammenspiel in einer Redaktion. Allerdings ist die „Wespennest“-Redaktion auf ihre Weise auch eine Band. Und eine Band braucht einen Schlagzeuger, der den Rhythmus vorgibt – und ihn auch hält! Und in dieser Funktion habe ich mich hoffentlich tendenziell bewährt …
Walter Famler, geboren 1958 in Bad Hall/Oberösterreich, ist Generalsekretär des Kunstvereins Alte Schmiede in Wien. Außerdem ist er seit 1983 Redaktionsmitglied, seit 1997 Herausgeber der ebenfalls in Wien erscheinenden Literaturzeitschrift „Wespennest“.
Interview: Nils Kahlefendt
Im Fokus: Unbedingt lesenswert
Vier Richtige
Unabhängige Verlage sind mutig und risikofreudig, die Trüffelsucher auf der wilden, bunten Seite des Buchmarkts. Einige der spannendsten Romane und Sachtitel aus der aktuellen Produktion der Independents stellen wir hier vor.
Ein Wälzer lässt uns eintauchen in die Zeit der großen Umwälzung: „Das Jahr 1990 freilegen“ ist ein Buch aus lauter Büchern. Wir finden Sitzungsprotokolle des Runden Tischs; Notate von Kurt Biedenkopf oder Kohls Berater Horst Teltschik aus dem Kanzleramt stehen neben Briefen der in der DDR untergetauchten und 1990 inhaftierten RAF-Terroristin Inge Viett aus dem Gefängnis. Fotografen haben ihre Kontaktbögen aus der Wende-Zeit durchforstet. Daneben finden sich farbige Magazinseiten, die für Parfüm, Laptops und Mobiltelefone werben – damals noch eine recht schwere und kostspielige Angelegenheit. Auf fast 600 großformatigen Seiten, von denen keine der anderen gleicht, saugt uns diese suggestive Text-Bild-Montage mit Haut und Haaren in die Vergangenheit – und ist doch hoch aktuell. In einer Zeit, da die Deutungshoheit über Wende und Wiedervereinigung erbittert umkämpft ist, lässt sich hier lernen, wie sich Geschichte auch erzählen lässt: Als polyphone Montage, in der Aufbruch und Enttäuschung, Emanzipation und neue Demütigung gleichzeitig in den Blick kommen.

Jan Wenzel, Wolfgang Schwärzler u. a. (Hrsg.): Das Jahr 1990 freilegen
Spector Books, 592 Seiten, 36,- €
Ein packender Roman, der fragt, was zwei junge Männer aus der „Mitte der Gesellschaft“ in die äußerste Radikalität treibt: Vor sechs Jahren sorgte der Autor Urs Zürcher mit „Der Innerschweizer“ für Furore, einem 700-Seiten-Ziegel, in dem eine Baseler WG der frühen 1980er Jahre den dritten Weltkrieg entfesselt. In seinem neuen Roman „Überwintern“ geht er der Frage nach, wie zornige Teenager, getrieben von einer diffusen Wut auf das „System“, zu lebensverachtenden Söldnern werden können. Jonas und Benjamin prallen wie Billardkugeln in einem endlosen Spiel aufeinander: Sie saufen, kiffen, hören Anthrax und Celtic Frost. Benjamin, das Bürgersöhnchen, empfindet sein Jura-Studium als zunehmend sinnlos. Jonas wandert das Spektrum der Gesellschaft auf der Suche nach Orientierung vom extrem linken zum äußersten rechten Rand ab – und wird dennoch nicht fündig. Der als zynisch erscheinenden Welt haben Benjamin und Jonas nichts als ihre entgrenzte Männlichkeit entgegenzusetzen. In seinem tieftraurigen Roman erklärt Urs Zürcher diesen Ablösungs-Prozess nicht. Er erzählt ihn. Und stellt uns indirekt die bittere Frage nach den Werten, die ihn aufhalten könnten.

Urs Zürcher: Überwintern. Roman
Bilgerverlag, 431 Seiten, 28,- €
Ein tolles Heft zeigt uns, warum boykottierte Currywürste die Welt nicht retten: Pünktlich zum 50. Verlagsgeburtstag knüpft die Augsburger Indie-Legende Maro mit ihren „MaroHeften“ an die legendären „Tollen Hefte“ an. In der neuen Reihe trifft Essay auf Illustration – zu jeweils brennenden Themen der Zeit. Wie gut das funktioniert, lässt sich gleich in der ersten Nummer bestaunen: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabällchen“. Auf 36 Seiten nimmt sich Jörn Schulz den Tops von der angeblichen Macht der Verbraucher vor – doch auch „Grüner Kapitalismus“, erfahren wir, trägt die Logik der bestehenden Ökonomie weiter. Der Berliner Illustrator Marcus Gruber hat dazu wunderbar verrückte Original-Druckgrafiken geschaffen, die den Wahnsinn unserer Welt zwischen Protestkultur, Massentierhaltung und kruden Verschwörungstheorien meisterhaft einfangen.

Jörn Schulz, Marcus Gruber (Ill.): Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe das erste Quinoabällchen
Warum nachhaltiger Konsum das Klima nicht rettet (MaroHeft#1). Maro, 36 Seiten, 18,- €
Ein realitätsgesättigter Thriller mit tiefenscharf ausgeleuchteten Figuren: „Literarischer Krimi“, meinte die Kritikerin Ursula März einmal, klinge immer so verdruckst, nach „intelligent, aber trotzdem sexy“. Im Fall der Schottin Denise Mina stimmt das Etikett. Nachdem sich der Ariadne Verlag um das Werk der „Queen of Tartan Noir“ kümmert, spricht sich das auch hierzulande herum; die Romane „Blut Salz Wasser“ (2018) und „Klare Sache“ (2019) gewannen aus dem Stand den Deutschen Krimipreis. Mit „Götter und Tiere“, einem Roman ihrer Reihe um die Kriminalermittlerin Alex Morrow, hat Mina nun erneut einen extrem dicht erzählten Thriller geschrieben. In der Geschichte, die mit einem blutigen Massaker in einem Glasgower Postamt beginnt, führt uns die Autorin dorthin, wo es wirklich wehtut. Für die französische Noir-Meisterin Dominique Manotti ist der Kriminalroman so etwas wie das politische Buch der Zeit. Autorinnen wie Denise Mina haben in den zurückliegenden Jahren die Grenzen der Genreliteratur überwunden, um gesellschaftliche Konfliktlagen psychologisch stimmig und packend auf den Punkt zu bringen. Show, don’t tell!
Text: Nils Kahlefendt

Denise Mina: Götter und Tiere. Roman
Übersetzt von Karen Gerwig. Ariadne, 352 Seiten, 21,- €
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