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Hörbuch

Von Bestsellern über Neuerscheinungen bis zu Hörbuch-Originalen – hier warten die großen Hörerlebnisse auf Sie.

Im Fokus: Hörbücher

Gespanntes Zuhören

Bestialische Morde, fieberhafte Spurensuche – starke Stimmen ziehen Krimifans mitten ins Geschehen, katapultieren Bilder und Schreckmomente in Kopf und Glieder. Gleich ob Sie für Psychothriller, Krimis, True Crime oder ungelöste Fälle schwärmen oder sich von schrulligem Ermittler-Humor aus heimischer Region unterhalten lassen, die Hörbücher 2020 bieten Stoff für alle Fälle.

Eine Mordserie erschüttert Helsingborg. Der Täter geht äußerst brutal und scheinbar willkürlich vor. Als Kommissar Fabian Risk das perfide Spiel begreift, hängt sein Leben vom glücklichen Zufall ab. Mit der eindringlichen Stimme von David Nathan, Synchronsprecher von Jonny Depp, kann sich der „Rückkehr des Würfelmörders“ von Stefan Ahnhem niemand entziehen.

Hörbuch: Rückkehr des Würfelmörders von Stefan Ahnhem

Stefan Ahnhem: Rückkehr des Würfelmörders
Übersetzt von Katrin Frey. Gelesen von David Nathan. Hörbuch Hamburg, 2 MP3-CDs, 18,- €

Starke Nerven und höchste Konzentration brauchen Zuhörer auch beim jüngsten Fall von Will Trent und seiner Lebensgefährtin, der Rechtsmedizinerin Sara Linton. In Atlanta wird eine junge Joggerin mit einem Hammer attackiert und sterbend im Wald zurückgelassen. Ein Insasse des Staatsgefängnisses behauptet, der Fall gleiche exakt dem Frauenmord, für den er vor acht Jahren unschuldig verurteilt worden sei. Schauspielerin Nina Petri präsentiert „Die verstummte Frau“ der Bestsellerautorin Karin Slaughter so packend und lebendig, dass der Atem stockt und 1246 Hörminuten wie im Flug vergehen.

Hörbuch: Die verstummte Frau von Karin Slaughter

Karin Slaughter: Die verstummte Frau
Übersetzt von Fred Kinzel. Gelesen von Nina Petri. Harper Audio, 3 MP3-CDs, 19,99 €

Ein mysteriöser Serienmord an Frauen führt auch in „Cold Case – Das verschwundene Mädchen“ zu einem alten Vermisstenfall und bringt Tess Hjalmarsson, Expertin für ungelöste Fälle ins Spiel. Der Cold-Case-Auftakt der preisgekrönten schwedischen Kriminalreporterin Tina Frennstedt überzeugt mit realitätsnaher Story – und Schauspielerin Tessa Mittelstaedt haucht jedem Protagonisten filmreif Leben ein.

Hörbuch: Cold Case – Das verschwundene Mädchen von Tina Frennstedt

Tina Frennstedt: Cold Case – Das verschwundene Mädchen
Übersetzt von Fred Kinzel. Gelesen von Tessa Mittelstaedt. Lübbe Audio, 6 CDs, 16,- €

Wie reale Ermittlungsarbeit aussieht, schildert Walter Roth, langjähriger Pressesprecher des Polizeipräsidiums Freiburg, in „SOKO Erle“ anhand des wahren Mordfalls einer 27-jährigen Joggerin in einem kleinen Ort am Kaiserstuhl. In klassischer Behördensprache und dem sachlichen Ton des Polizeisprechers liest Erich Wittenberg wie forensische und kriminaltechnologische Kleinarbeit einen mehrfachen Frauenmörder überführen.

Hörbuch: SOKO Erle von Walter Roth

Walter Roth: SOKO Erle. Der Mordfall Carolin G.
Gelesen von Erich Wittenberg. Audiobuch Verlag, 1 MP3-CD, 17,95 €

Von harter Polizeiarbeit des True Crime ab in den Urlaub. Wer den Corona-bedingt zu Hause verbringt, darf mit Kommissar Dupin nach Saint-Malo zum Polizeiseminar reisen, „Bretonische Spezialitäten“ von Jean-Luc Bannalec und faszinierende Landeskunde rund um die Smaragdküste genießen. Ein Geschwistermord, düstere Familiengeheimnisse und die atemlose Stimme von Sprecher Gerd Wameling lassen allerdings keine Verdauungspausen zwischen kulinarischen Schwelgereien zu.

Hörbuch: Bretonische Spezialitäten von Jean-Luc Bannalec

Jean-Luc Bannalec: Bretonische Spezialitäten
Gelesen von Gerd Wameling. Argon Verlag, 2 MP3-CDs, 19,95 €

Auch Griechenland-Reisenden ist an der Seite von Kostas Charitos wenig Ruhe vergönnt. Das Land steckt mitten in der Finanzkrise und zur kochenden Volksseele erschüttern blutige Morde an Bankern das heiße Athen. „Faule Kredite“ von Petros Markaris ist jetzt als Hörbuch erschienen und blickt – ungekürzt gelesen von Daniel Buser – aus griechischer Perspektive zurück aufs Krisenjahr 2010.

Hörbuch: Faule Kredite von Petros Markaris

Petros Markaris: Faule Kredite
Gelesen von Daniel Buser. Diogenes Hörbuch, nur als MP3-Download, 14,95 €

Richtig viel zu lachen gibt es dagegen in der Kategorie Regiokrimi an der Seite der bayerischen „Miss Marple“ Daisy Dollinger, die in Sachen Musikermord im Hofbräuhaus ermittelt. „Der halbe Russ“ von Isolde Peter, mit viel Witz, Charme und Tempo von Shandra Schadt gelesen, machen Lust auf weitere akustische Fahndungseinsätze.

Hörbuch: Der halbe Russ von Isolde Peter

Isolde Peter: Der halbe Russ
Gelesen von Shandra Schadt. Argon Verlag, nur als MP3-Download, 20,95 €

Text: Anita Strecker

Im Gespräch: Anja Herrenbrück

Im Zentrum steht das Wort

Das Theaterstück „Gott“ von Ferdinand von Schirach gibt es nun als Hörspiel. Die Regisseurin Anja Herrenbrück spricht über die Herausforderungen und Faszination der Produktion

Anja Herrenbrück

Anja Herrenbrück, Regisseurin des Hörspiels "Gott" von Ferdinand von Schirach

© Andreas Rehmann

Frau Herrenbrück, bei Hörspiel denkt man an opulente Geräuschkulissen, die Welten entstehen lassen. Ferdinand von Schirachs Stück „Gott“ bietet nur eine Kulisse: Den Anhörungssaal des Ethikrates, der das Recht auf Sterbehilfe für den völlig gesunden 78-jährigen Richard Gärtner verhandeln muss. Wie herausfordernd war es, fast ohne Geräuschkulisse die Szenerie zu erschaffen und bis zuletzt die Spannung zu halten?

Anja Herrenbrück: Schirachs Stück „Gott“ ist ein Kammerspiel. Das zeichnet sich dadurch aus, dass die auf der Bühne agierenden Personen einen Konflikt ohne Ortswechsel miteinander verhandeln müssen. Oft ist die einzige „Waffe“, die ihnen zur Verfügung steht, die Sprache. Das Kammerspiel lässt sich unglaublich gut auf das Genre Hörspiel übertragen – finde ich. Ich mache das jedenfalls sehr gern, auch im Hörspiel kann der Dialog sehr mächtig sein und fesseln. Das liegt daran, dass wir Hörer bestimmte Reize, allen voran das Visuelle, vernachlässigen können und uns umso besser auf das Gesagte konzentrieren.

 

Die Reduktion lenkt aufs Wesentliche ...

Es war eine bewusste Entscheidung, die Geräuschkulisse auf ein Minimum zu reduzieren und sie nicht realistisch aufzufassen. Normalerweise würde in so einem Saal ja immer mal jemand husten oder auf dem Stuhl herumrutschen und natürlich hätte man das als Hintergrundatmosphäre permanent mitinszenieren können. Aber das war nicht wichtig. Wichtig sind die unterschiedlichen Argumente und Positionen, die das fiktive Personal vorstellt und verhandelt.

 

Dennoch hat man beim Zuhören immer eine klare Vorstellung, wo man sich befindet.

Atmosphärisch lasse ich den Saal des Ethikrates hier und da mal kurz „aufscheinen“ (z.B. bei Zwischenrufen durch Biegler). Das reicht, um das Bewusstsein für den Ort der Handlung und wer alles anwesend ist, nicht zu verlieren. Ähnlich bin ich mit der Musik verfahren. Die kurzen Geräusch- und Musikinseln sind dennoch sehr wichtig, denn bei so einem dichten Text sind kleine Atempausen vonnöten. So wie man sich im klassischen Konzert nach jedem Satz einer Sinfonie mal kurz streckt – und hoffentlich nicht gähnt.

 

Acht bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler wie Florian Lukas, Jördis Triebel oder Corinna Kirchhoff haben mitgewirkt. Worauf kam es Ihnen bei der Besetzung an?

Bei einem Text wie „Gott“ muss ich vorher gut einschätzen können, ob jemand ihn auch mitdenken kann und bei diesen KünstlerInnen war ich überzeugt davon. Sie haben mich nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Allen voran bin ich Peter Rühring sehr dankbar, dass er mal wieder im Studio war. Er hat den Richard Gärtner gespielt. Die Interpretation, die mir Peter Rühring angeboten hat, war ein absolutes Geschenk.

 

Theater lebt von Interaktion – wie kann man sich das Setting bei Ihrer Produktion vorstellen?

Wir haben glücklicherweise den größten Teil des Textes vor der Corona-Pandemie aufgenommen. Insofern konnte ich relativ viel im Ensemble aufnehmen. Alle Expertenbefragungen zum Thema Sterbehilfe durch Frau Keller (Jördis Triebel) und Herrn Biegler (Florian Lukas), habe ich im Dialog aufgenommen.

 

Was hat Sie am meisten an der Arbeit gereizt und begeistert?

Wie gesagt: Kammerspiel ist eine Herausforderung, die ich mag. Mir machen auch üppig mit Geräuschkulissen und Musiken bestückte, unterhaltende Hörspiele Spaß. Aber wenn ich die Gelegenheit habe, mich wie in diesem Fall stärker auf die Wortregie konzentrieren zu können, dann freue ich mich. Außerdem konnte ich mich genauer mit Schirach und seiner Art, Argumentationen aufzubauen und zu formulieren, auseinandersetzen. Das war sehr interessant.

 

Interview: Anita Strecker

Ferdinand von Schirach: Gott
Hörspiel mit Florian Lukas, Jördis Triebel, Peter Rühring u.a.
Der Hörverlag, 2 CDs, 18,- €

3 Hörtipps

Hörbuch Corona

Cordt Schnibben, David Schraven (Hrsg.): Corona
Geschichte eines angekündigten Sterbens
Gelesen von Gregor Höppner.
dtv audio, 2 CDs, 14,95 €

Cordt Schnibben, David Schraven (Hrsg.): Corona
Geschichte eines angekündigten Sterbens
Gelesen von Gregor Höppner.
dtv audio, 2 CDs, 14,95 €

Corona“ – der Titel ist unausweichlich in diesem Pandemie-Jahr 2020. „Spiegel“-Autor Cordt Schnibben und David Schraven, Gründer des Recherche-Büros Correktiv, haben aus den Recherchen von 18 Journalisten ein regelrechtes Wissenschaftsdrama verfasst – vom Ausbruch von COVID-19 in Wuhan bis zur Krise der Wirtschaftssysteme und dramatischen Folgen für die Menschen weltweit. Packend schildern sie, wie Politik von Verharmlosen bis Shutdown, von der Kooperation mit Wissenschaftlern bis parteitaktischen Manövern agierte. Ebenso packend und pointiert von Gregor Höppner gelesen, kann man der 725 Minuten langen Flut an Informationen mühelos folgen, um sich am Ende sein eigenes Bild zu machen.

Der zerrissene Brief

Hanns Zischler: Der zerrissene Brief
Gelesen vom Autor.
tacheles/Roof Music, nur als MP3-Download, 14,95 €

Hanns Zischler: Der zerrissene Brief
Gelesen vom Autor.
tacheles/Roof Music, nur als MP3-Download, 14,95 €

1966. Elsa besucht ihre „Adoptivmutter“ Pauline. Beim Stöbern in alten Briefen, Fotos und Notizen kehren verlorene Erinnerungen der 77-Jährigen zurück, die 1899, mit 17 Jahren, ihrem Heimatdorf in Franken für zwei Jahre nach New York entfloh. Ihr späterer Ehemann Max gab ihr 2.000 Goldmark dafür, um – so sein Kalkül – eine spätere Reisegefährtin in ihr zu finden. Stück für Stück setzen sich die Erinnerungen an ihre Liebe und zahllosen Reisen zu einem bewegten Leben zusammen. Hanns Zischlers erster Roman „Der zerrissene Brief“ steckt voll Poesie, die im Hörbuch sinnlich berührt. Der Schauspieler liest sein Werk selbst, kein anderer könnte den Ton besser treffen.

Der Platz

Annie Ernaux: Der Platz
Hörspiel. Gelesen von Stephanie Eidt.
Der Audio Verlag, 1 CD, 14,- €

Annie Ernaux: Der Platz
Hörspiel. Gelesen von Stephanie Eidt.
Der Audio Verlag, 1 CD, 14,- €

Sie will über ihren toten Vater schreiben. Sohn eines Bauernknechts, der sich zum Besitzer eines Ladens mit Kneipe hochgeschuftet hat. Die Tochter studiert, wird Teil des Bildungsbürgertums, zu dem der Vater keinen Zutritt hat. Klassendistanz verbietet einen poetischen Erinnerungsroman. Das Gemisch aus Liebe und Scham verlangt den sachlichen Ton, die objektive Beschreibung seines Lebens. Im Hörspiel zum Roman „Der Platz“ von Annie Ernaux trifft die Schauspielerin Stephanie Eidt als kühle Ich-Erzählerin genau diesen Tonfall. Atempausen schaffen minimalistische, rhythmische Musikeinspielungen. Genau durch diese Reduktion wird das Hörspiel so eindringlich und zur authentischen Milieustudie.

Texte: Anita Strecker

Hörbuchempfehlung

Von der Jungfrau Maria zur sexuellen Revolution

Pubertät in einem konservativ-katholischen Elternhaus in den 70ern ist ein hartes Los. Zwischen Ahoi-Brause, Franz Josef Strauß und sexueller Revolution braucht es jugendlichen Erfindergeist, wie Autor Peter Probst und Hörbuchsprecher Christian Tramitz von „Wie ich den Sex erfand“ aus eigener Erfahrung wissen.

„Heilige Maria Mutter Gottes, ich bitte dich, erscheine mir nicht!“ Der bayerische Katholizismus kann schlaflose Nächte bereiten. Besonders, wenn man noch keine Zwölf ist, in einem stockkatholischen Elternhaus auf der Grenze zwischen Unter- und Obermenzing in München aufwächst, mit verstörenden Geschichten von Marienerscheinungen und düsteren Geheimnissen, die die unbefleckte Empfängnis ihren Auserwählten offenbart.
Die Not des jungen Peter Gillitzer ist noch steigerungsfähig mit einsetzender Pubertät, denn mit den erzkonservativen Eltern kann Peter unmöglich Fragen zur weiblichen Anatomie klären oder was geheimnisvolle Worte wie Unzucht, Beischlaf, Petting oder Porno bedeuten. Zur Aufklärung bleiben nur findig beschaffte „Neue Revue“-Hefte und heimliche Recherchen in der Brockhaus-Ausgabe des Vaters, um in der Klasse nicht als Volltrottel dazustehen, der auf der untersten Hierarchiestufe rangiert.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Hörbuch Wie ich den Sex erfand

Peter Probst: Wie ich den Sex erfand
Gelesen von Christian Tramitz. Kunstmann, 2 MP3-CDs, 20,- €

Mit trockenem Humor, teils irrwitzig komisch erzählt Peter Probst in „Wie ich den Sex erfand“ von den Nöten und Verwerfungen eines Pubertierenden im Jahr 1970, dessen Untermenzinger Weltsicht von der Kirche bis Franz Josef Strauß reicht und eine Klassenparty im katholischen Pfarrheim aus Sicht des Vaters schon die reale Gefahr von Sexorgien, Sittenverfall und unheilbaren Geschlechtskrankheiten darstellt – ähnlich bedrohlich wie die sozialistische Unterwanderung durch Willy Brandt.

Aus heutiger Sicht mutet der Roman an wie „Berichte von einem seltsamen Stamm im Süden Deutschlands“, sagt der Schriftsteller und preisgekrönte Drehbuchautor Peter Probst. Tatsächlich hat der 63-Jährige vieles davon am eigenen Leib erlebt. „Die kuriosesten Episoden sind wirklich passiert.“

Die Leiden des jungen G. in ihrer ganzen tragisch-komischen Dimension kommen umso köstlicher in der Hörbuch-Variante mit Sprecher Christian Tramitz daher. Der Held aus „(T)Raumschiff Surprise“ oder „Der Schuh des Manitu“ trifft als bayerischer Muttersprachler und trefflicher Franz-Josef Strauß-Parodist genau den richtigen Ton, um aus den vielen Detailbeschreibungen, Szenen und Wortwechseln den Geist der 70er und die konservativ-bajuwarische Volksseele lebendig werden zu lassen, die der genaue Beobachter Probst in ihrem speziellen Irrwitz pointiert beschreibt.
Als Drehbuchautor ist Probst hart im Nehmen, „jeden Text gleich zur Adoption freizugeben“ und die Interpretation anderen zu überlassen, sagt er. In diesem Fall war Christian Tramitz als Sprecher sein ausdrücklicher Wunschkandidat: „Er hat den Geist total erfasst, das Hörbuch ist rundum gelungen“. Nicht von ungefähr. Der zwei Jahre ältere Schauspieler ist im selben Stadtteil wie Probst aufgewachsen, hat dieselbe Schule besucht und dieselben Lehrer genossen. So ist der Coming-of-Age-Roman als Hörbuch mit Tramitz ein gelungenes Gesamtkunstwerk: Tragisch, skurril, urkomisch, nachdenklich – ein Hochgenuss für alle Generationen.

Text: Anita Strecker

Im Porträt: Nico Holonics

Den Geist des Textes zum Klingen bringen

Für seinen Debütroman „Elbwärts“ wurde Thilo Krause, Wirtschaftswissenschaftler, Poet, Schriftsteller und gebürtiger Dresdner, mit dem Robert-Walser-Preis 2020 ausgezeichnet. Der Schauspieler Nico Holonics transportiert die Poesie des Werks mit starker Stimme.

Nico Holonics

© Franziska Taffelt

„Das ist mein Fels. Ein windiges Riff, ein paar knotige Kiefern. Abends komme ich hierher, um unser Haus von oben zu sehen …“ Versonnen zieht die Stimme des Schauspielers Nico Holonics in die Geschichte und in die Erinnerungswelt des Ich-Erzählers, der mit seiner Frau und Tochter in die alte Heimat gezogen ist. Alles ist vertraut, die Pfade im Wald zwischen den Elbsandsteinfelsen, die der Ich-Erzähler zahllose Male mit seinem Freund Vito durchstreift hat, bis zu dem Monolithen, den sie als Erste bezwingen wollten.

Mit der Kraft seiner Stimme lässt Holonics immer tiefer in die Gefühlswelt des Ich-Erzählers eintauchen und mit seinen Erinnerungsbildern die Atmosphäre des Waldes entstehen, Gerüche, Szenen. Fast wie Musik gleitet die Geschichte voran, lässt die Schwere erahnen, auf die sie zusteuert. Das Vertraute ist fremd geworden, Ich ist Zugezogener, kein Einheimischer mehr. Er stößt auf Misstrauen und offene Feindseligkeit einer Gruppe von Neonazis. „Elbwärts“ ist ein Glücksfall, sagt Holonics. „Die Sprache ist toll, aber am meisten hat mich die stille, melancholische und zerrissene Stimmung des Protagonisten beeindruckt.“
Seine Sprechertätigkeit neben seinem Beruf als Schauspieler – aktuell als Mitglied des Berliner Ensembles – begreift er als eigene Tätigkeit mit völlig anderen Anforderungsprofilen. Sie bietet „Urlaub von der visuellen Ebene“, die Konzentration richtet sich ungeteilt auf Text und Stimme. Den Geist eines Textes erfassen und transportieren, ohne als Interpret die Intimität zu stören, die beim stillen Lesen eines Buches zwischen Text und Leserin oder Leser entsteht.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Hörbuch Elbwärts

Thilo Krause: Elbwärts
Ungekürzt gelesen von Nico Holonics.
Der Audio Verlag, 6 CDs, 22,- €

Der 36-Jährige hat mit Beginn seiner Schauspielerkarriere, die ihn neben TV-Rollen an bekannte Theaterhäuser in Dresden, München, Frankfurt und nun nach Berlin führte, auch seine Sprechertätigkeit konsequent aufgebaut. Er liest Hörbücher, spielt bei Hörspielen mit, arbeitet regelmäßig für den Rundfunk. Eine Doppelkarriere, die aus Zufall begann: Beim Intendantenvorspiel an der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“ in Berlin wurde Michaela Ziegler, „Ikone“ für Sprecherbesetzungen für Funk und Hörspiele, auf den Schauspielschüler aufmerksam und lud ihn zu Probeaufnahmen. „Ich wurde danach massiv gefördert, so hat das angefangen.“

Die Affinität zur Stimme bringt der 36-Jährige von klein auf mit. Als Junge hat er sich im Keller ein Tonstudio eingerichtet, erzählt er. Mit Fahrradlampe an der Tür, die brannte, wenn er drinnen Geschichten und Gedichte auf Kassetten sprach und später – mit eigenem Computer – die Stimme mit Musik unterlegen konnte. Auch Musik spielt eine zentrale Rolle für die große Stimme: Mit acht wurde der gebürtige Leipziger Mitglied im Gewandhaus-Kinderchor, wechselte später in den Gewandhauschor unter Leitung von Kurt Masur. Nicht von ungefähr vergleicht Holonics seine Vorbereitungen für ein Hörbuch mit einer Partitur, die nach wiederholtem Durcharbeiten in detaillierten Anmerkungen zu Dramaturgiebögen, wichtigen Atempausen oder farbigen Markierungen für einzelne Charaktere münden, um sie beim Lesen nicht zu verwechseln. „Es ist tatsächlich wie in der Musik. Es beginnt mit der Ouvertüre, dann folgt vielleicht eine Exposition, ein Scherzo, verschiedene Sätze bis zum großen Finale.“

Thilo Krauses Roman „Elbwärts“ bringt für ihn alles mit. Auch persönlich kann er sich in seinen Protagonisten hineinversetzen. Holonics ist in einem Dorf bei Leipzig aufgewachsen. Umgeben von Natur, die ihm bis heute vertraut ist. Die kindliche Aufregung bei Streifzügen durch den Wald vorm Elternhaus kann er dennoch nicht zurückholen, fühlt sich fremd gegenüber den Menschen, mit denen er aufgewachsen ist. „Wie sie reden – auch übereinander reden ...“ Viele sind Anhänger der AfD, alles andere als weltoffen. „Das erzeugt Fremdheit, Wut, Ratlosigkeit.“

Text: Anita Strecker