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Kunstbuch & Fotografie

Festgehalten für die Ewigkeit – atemberaubende Neuerscheinungen aus Kunst, Fotografie und Mode.

Im Fokus: Große Meister, epochale Kunst

Bildreiche Erinnerungen

Auch wenn COVID-19 weltweit die Schlagzeilen beherrscht, 2020 ist mehr als „Corona-Jahr“. Es ist das Jahr, um vieler herausragender Künstlerpersönlichkeiten zu gedenken, die mit ihrer Profession und Berufung bahnbrechend waren. Opulente Kunst- und Fotobände erinnern an sie.

Musiktitan, epochal, bahnbrechend, revolutionär … Kaum ein Künstler wird mit so viel heroischen Zuschreibungen bedacht – und vereinnahmt – wie Beethoven. Zum 250. Geburtstag des Komponisten ist begleitend zur bemerkenswerten Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien der Bildband „Beethoven bewegt“ entstanden: Künstler setzen sich sehr persönlich mit Beethoven und einzelnen Werken auseinander, lassen sich inspirieren und ermuntern Betrachter mit ihrem Kaleidoskop an Werken und Gedanken zur eigenen Auseinandersetzung mit dem Genius.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Beethoven bewegt

Andreas Kugler, Jasper Sharp, Stefan Weppelmann, Stefan: Beethoven bewegt
Hatje Cantz Verlag, 224 Seiten, 48,- €

Il divino, der Göttliche: Auch Raffael, einer der bedeutendsten Künstler der Hochrenaissance, wurde schon zu Lebzeiten mit Superlativen tituliert und gefeiert. Von seinem Leben ist allerdings wenig überliefert. Zum 500. Todesjahr des Malers und Baumeisters hat der Kunsthistoriker Arnold Nesselrath den Bildband „Raffael!“ mit umfangreichen Abbildungen und Texten vorgelegt und eröffnet als langjähriger Restaurierungsleiter im Vatikan neue Perspektiven auf Leben und Werk des Künstlers.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Raffael

Arnold Nesselrath: Raffael!
Belser, 224 Seiten, 89,- €

Bahnbrechend und tollkühn ist das Werk der Architektin Zaha Hadid. Als Meisterin der Bewegung und fließender Formen hat sie Raum, Bauten und Design ganzheitlich gedacht. Auf fast 700 Seiten versammelt der von Philip Jodidio herausgegebene Band „Zaha Hadid“ all ihre Bauwerke, dazu Zeichnungen der 2016 verstorbenen Visionärin, die als erste Frau mit dem Pritzker-Architektur-Preis ausgezeichnet wurde.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Zaha Hadid

Philip Jodidio: Zaha Hadid
Complete Works 1979–Today. Taschen, 672 Seiten, 50,- €

Was hätte die Welt noch alles erwarten dürfen, wäre der Filmemacher Rainer Werner Fassbinder mit seinem rastlosen Schöpferdrang nicht schon 1982 gestorben. In diesem Jahr wäre das Enfant Terrible des Neuen deutschen Films 75 Jahre alt geworden. „Filmstills 1966–1982“ zeigt 180 Aufnahmen aus fast allen seiner 44 Filmproduktionen.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Filmstills

R.W. Fassbinder, Hans Helmut Prinzler, Peter Handke: Filmstills 1966–1982
Schirmer Mosel, 200 Seiten, 24,80 €

Eigenwillig inszenierte Momentaufnahmen am Filmset, intime Porträts von Superstars: 150, zum Teil unveröffentlichte Schwarz-Weiß-Fotos aus 40 Jahren seines Schaffens hat Peter Lindbergh für seine erste selbst kuratierte Werkschau bis kurz vor seinem Tod vorigen Jahres zusammengestellt. „Untold stories“ sind jetzt als Fotoband erschienen und erzählen ganz eigene Geschichten in der außergewöhnlichen Bildsprache des Fotografen, der wie kein anderer die Grenzen zwischen Modefotografie und Kunst aufhob und die Film- und Mode-Ikonen unserer Zeit einfach nur als schöne, starke Frauen zeigt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Untold Stories

Felix Krämer, Wim Wenders, Peter Lindbergh: Peter Lindbergh. Untold Stories
Taschen, 320 Seiten, 60,- €

Auch Christo ist vor der geplanten Verhüllung des Arc de Triomphe in Paris Ende Mai gestorben. Der Bildband „Paris!“ von Christo und Jeanne-Claude erinnert an die spektakuläre Verhüllung der Pont Neuf von 1975 bis 1985 und an die frühen Pariser Jahre 1958 bis 1964, wo mit heute fast vergessenen verpackten kleinen Alltagsgegenständen die Weltkarriere des Künstlerpaares begann.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Paris

Christo and Jeanne-Claude: Paris!
Texte von Sophie Duplaix u.a. Sieveking Verlag, 256 Seiten, 39,90 €

Vor Corona war der verheerende Brand der Notre-Dame am 15. April 2019 zunächst der Grund, weshalb die Verhüllung des Arc de Triomphe verschoben wurde. Der Bildband „Notre Dame de Paris“ dokumentiert mit historischen Zeichnungen, Gemälden und Fotografien, 800-jährige Baukunst, Pariser Leben und alles, was Notre-Dame für Paris und Menschen aus aller Welt immer war, ist und sein wird.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Notre Dame

Lothar Schirmer: Notre-Dame de Paris
Bilder einer Kathedrale. Schirmer Mosel, 140 Seiten, 39,80 €

Text: Anita Strecker

4 Lesetipps

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Van Gogh

Ingo F. Walther, Rainer Metzger (Hrsg.): Van Gogh. Sämtliche Gemälde
Taschen, 752 Seiten, 40,- €

Ingo F. Walther, Rainer Metzger (Hrsg.): Van Gogh. Sämtliche Gemälde
Taschen, 752 Seiten, 40,- €

Kaum ein Maler hat andere Künstler so sehr inspiriert wie er. Kaum ein anderer lässt Farben, Licht und Schatten lodern wie er. Und kaum ein anderer Künstler lässt Ausstellungs-Kuratoren auf der ganzen Welt in immer neuen Perspektiven auf sein Schaffen blicken: Vincent van Gogh, Genie, Autodiktat, der erst mit 27 Jahren mit der Malerei begann und mit seiner Kunst die moderne Malerei begründete. In einem üppigen Bildband versammelt der Taschen Verlag alle 871 Gemälde van Goghs, die, begleitet von Schriften und Aufsätzen, die künstlerische Entwicklung und den schwierigen Lebensweg des Ausnahmekünstlers nachzeichnen. (ana)

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Silent Cities

Mat Hennek: Silent Cities
Steidl, 96 Seiten, 45,- €

Mat Hennek: Silent Cities
Steidl, 96 Seiten, 45,- €

Corona und Lockdown haben gezeigt, wie ergreifend schön leere Städte wirken können. Der gebürtige Freiburger Fotograf Mat Hennek hat die poetische Kraft vorweggenommen: Jahrelang hat Hennek Großstädte in aller Welt bereist und von Abu Dhabi über Tokio bis München menschenleere Szenen festgehalten. 80 Fotografien, in denen nichts vom ästhetischen Spiel der Formen, Farben und Strukturen ablenkt, hat der Steidl Verlag im Fotoband „Silent Cities“ versammelt. Bilder, die keine Worte brauchen, einzig die Bildunterschriften geben Auskunft über den Ort. Silent Cities, eine stille Ode an die Kunst der Fotografie. (ana)

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Banksy

Gianni Mercurio (Hrsg.): The Art of BANKSY
Prestel, 224 Seiten, 34,- €

Gianni Mercurio (Hrsg.): The Art of BANKSY
Prestel, 224 Seiten, 34,- €

Das Mädchen mit dem Luftballon, die Friedenstaube in schusssicherer Weste – Banksys Graffitis sind weltberühmt. Dennoch wissen nur wenige, wer dieser international gefeierte Streetart-Künstler ist, der gegen den konventionellen Kulturbetrieb antritt und paradoxerweise längst als einer der teuersten Gegenwartskünstler gehandelt wird. Bis heute konnte Banksy seine Anonymität wahren. Als letzte Bastion, um nicht vom Establishment eingesogen zu werden. Der Bildband „The Art of BANKSY“ mit Aufsätzen, Fotos und Materialen von Wegbegleitern dokumentiert Werdegang und künstlerische Intention von Banksy hautnah. (ana)

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Banksy

Julia Voss: Hilma af Klint – „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“
S. Fischer, 600 Seiten, 25,- €

Julia Voss: Hilma af Klint – „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“
S. Fischer, 600 Seiten, 25,- €

Hilma af Klint (1862-1944) war fast vergessen, nicht zuletzt, weil die schwedische Künstlerin selbst verfügt hatte, dass ihre Werke 20 Jahre nach ihrem Tod verborgen bleiben sollen. Sie hatte sich mit dem Malen nicht nur in eine Männerdomäne vorgewagt, sie malte zudem abstrakt, bevor etwa Wassily Kandinsky das tat, und war sich bewusst, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Nun hat Julia Voss die Lebens- und Werkgeschichte dieser außergewöhnlichen Frau recherchiert. Zugleich reflektiert sie in ihrer lebendig erzählten, leicht zugänglichen Biografie den von Männern dominierten Kunstmarkt. (sc)

Im Gespräch: Heinz R. Böhme

Rehabilitation für die „Verlorene Generation

Der Band „Wir haben uns lange nicht gesehen“ stellt Werke und Künstler aus der Privatsammlung von Heinz R. Böhme vor. Seit Jahrzehnten spürt der emeritierte Medizinprofessor vergessene Künstler auf, die von den Nazis verfolgt wurden und zeigt sie in seinem Privatmuseum in Salzburg. Im Interview spricht er über sein ungewöhnliches Engagement.

Heinz R. Böhme

Herr Professor Böhme, Sie holen die sogenannte Verlorene Generation in die Gegenwart. Wie sind Sie dazu gekommen? 

Heinz R. Böhme: Sammeln war schon immer mein Hobby. Anlass, diese Leidenschaft konsequent zu führen, war ein Katalog über eine Ausstellung des Malers Ludwig Jonas (1887-1942) in Berlin 1984, den ich beim Ausräumen eines Bücherregals wieder in die Hand bekam. Er war tiefrot gefärbt und die Fotos waren per Hand eingeklebt und dadurch auffällig. Die Ausstellung stand unter der Schirmherrschaft des israelischen Botschafters. Ich las die Biografie dieses Malers, den keiner kannte. In Bromberg geboren ging er nach Berlin, um Malerei zu studieren, emigrierte nach Paris und weiter nach Palästina. Danach wurde mir klar, dass es noch viele solche Künstlerinnen und Künstler geben muss, die verfolgt wurden und deren Werke als „entartet“ galten. Sie wieder in die Gegenwart zurückzuholen, wurde mir zur Aufgabe.

 

Wie machen Sie diese Künstler ausfindig, viele Namen sind weitgehend unbekannt?

Meine Sammlung umfasst derzeit ca. 400 Werke, vorwiegend Ölgemälde. Sie zu finden war nicht einfach. Das Lesen alter Kunstzeitschriften, die Suche in Auktionskatalogen und im Internet führen nicht selten auf eine heiße Spur. Weitere Hinweise brachte die Überlegung, dass die anerkannten Maler dieser Zeit zwischen 1920 und 1945 auch Schüler hatten, die sicher nicht unbedeutend waren, aber durch die Wirrnisse dieser Zeit in Vergessenheit geraten sind und zur Verlorenen Generation wurden.

 

Was reizt Sie mehr, den Menschen nachzuspüren oder ein verlorenes Kunstwerk zu finden?

Es ist ein wechselseitiges Verhältnis zwischen dem Künstler und seinem Werk. Besonders die Künstler der Verlorenen Generation prägen mit Ihrer Biografie Inhalt und Ausdruck ihres Bildes. So gelingt es, Kunst- und Zeitgeschichte zu vereinen.

Lange nicht gesehen

Heinz R. Böhme: Wir haben uns lange nicht gesehen
Kunst der Verlorenen Generation. Sammlung Böhme
Hirmer, 272 Seiten, 39,90 €

Warum war es Ihnen wichtig, ein eigenes Museum zu gründen?

Die Vielzahl der Werke lässt sich im privaten Wohnzimmer nicht aufbewahren. Als „Leihgabe“ oder wie mir angeboten wurde, in einem großen Museum zu wirken, erschien mir für diese wiederentdeckten vom Schicksal geprägten, verfolgten und ins Exil getriebenen Künstler eine unzureichende Rehabilitation. Sie sollten zurück in die Gegenwart und auch jederzeit gegenwärtig sein. Daher habe ich mich entschlossen, ein gemeinnütziges Privatmuseum in Salzburg zu gründen.

 

Im Bildband „Wir haben uns lange nicht gesehen“, der begleitend zu Ihrer Ausstellung veröffentlicht wurde, wird nicht das Bild erläutert, wir erfahren vielmehr etwas vom Leben und dem Schicksal der Künstler. Liegt Ihr Fokus eher auf dem Menschen als auf der Kunst?

Im Vordergrund steht für mich nicht die Bildbeschreibung, die Zuordnung zu einem Stil oder gar die Werthaltigkeit des Werkes, sondern die Biografie, das Lebensschicksal dieses Künstlers, das sich mit seiner Darstellung verknüpft.

 

Nach welchen Kriterien kaufen Sie Bilder? Ist die Vita des Künstlers entscheidend oder die Qualität des Werks?

Der Erwerb folgt bei mir meist durch das „Bauchgefühl“. Diese Künstler hatten meist berühmte Lehrer, arbeiteten in oft verbotenen Kunstschulen und waren zu ihrer Zeit auf Grund der hohen Qualität bereits anerkannt und auf Ausstellungen präsentiert. Nur die politische Entwicklung hat sie aus der Bahn geworfen und zur Verlorenen Generation gemacht.

Interview: Anita Strecker

Buchempfehlung

Die Ära Mensch

Für viele Wissenschaftler steht unser Planet Erde am Beginn des Anthropozäns. Eine neue Ära, in der der Mensch zum zentralen Einflussfaktor auf alle biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse geworden ist. Der Bildband „Human Planet“ liefert eine aufrüttelnde Bestandsaufnahme.

 

Bis zum Horizont verstecken gleißende Gewächshausdächer die andalusische Landschaft unter einer geschlossenen Plastikdecke; in China ragen bizarre Kalksteinkegel trotzig aus einem gelben Meer blühender Rapsfelder; fast wie ein modernes Kunstwerk liegen begrünte Scheiben, jede exakt von einem Kilometer Durchmesser, in saudi-arabischem Wüstensand, während im brasilianischen Amazonas eine Hunderte Quadratkilometer große, graubraune Brandwunde klafft. Im Bildband „Human Planet“ dokumentieren der preisgekrönte Journalist und Wissenschaftsautor Andrew Revkin und der Fotograf George Steinmetz mit faszinierenden, teils schockierenden Luftaufnahmen und erklärenden Texten, wie massiv und einschneidend der Mensch die Erde formt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Human Planet

George Steinmetz, Andrew Revkin: Human Planet
Wie der Mensch die Erde formt. Übersetzt von Karin Maack.
Knesebeck, 256 Seiten, 45,- €

Er hat sich nie als Umweltschützer gesehen, sagt Steinmetz, der seit mehr als 40 Jahren die ganze Welt bereist und mit seinen spektakulären Overview-Bildern bekannt geworden ist, die er aus Leichtflugzeugen, mit Gleitschirmen und Drohnen aufnimmt. Die dramatischen Veränderungen, die er von oben vor der Linse hat, wenn er nach Jahren in ein Land zurückkommt, all die folgenreichen Spuren von Industrialisierung, grenzenlosem Wirtschaftswachstum, Ressourcenverbrauch und Klimawandel, haben ihn motiviert, mit seinen Bildern auf die problematische, ausbeuterische Beziehung der Menschen zu ihrem Planeten hinzuweisen.
Der gemeinsame Bildband mit Andrew Revkin ist die kritische Bestandsaufnahme. In seinen Texten beschreibt Revkin anschaulich, wie die massiven Eingriffe des Menschen zu Erderwärmung, Artensterben, Gletscherschmelze, Anstieg des Meeresspiegels und Klimawandel führen – mit den Folgen wie Dürre, Orkanstürme, Überflutungen. „Human Planet“ ist eine eindrückliche Bilddokumentation, die aber nicht nur eine düstere Apokalypse heraufbeschwört, sondern mit faszinierenden Naturaufnahmen und der Vorstellung vielversprechender Technologien zeigt, wie vieles noch zu bewahren und zu reparieren ist.
Vor dem Hintergrund der globalen Klimaschutz-Debatte, der „Fridays for Future“-Bewegung und der aufrüttelnden Corona-Pandemie kommt „Human Planet“ zur richtigen Zeit. Als visueller Appell, das Anthropozän als nachhaltige Beziehung zu gestalten.

Text: Anita Strecker

Im Porträt: Gerhard Richter

Die Wirkmacht der Malerei

Die Ausstellung „Painting After All“, die nach New York nun in Los Angeles zu sehen ist, hält Rückschau auf Gerhard Richters gut 60 Jahre währende Auseinandersetzung mit Malerei und Zeitgeschichte. Der Bildband „Gerhard Richter. Malerei“ dokumentiert die Retrospektive mit erklärenden Aufsätzen.

Er ist der teuerste Künstler der Gegenwart. 2015 wurde ein abstraktes Gemälde von Gerhard Richter für 41 Millionen Euro bei Sotheby‘s versteigert. Der in Köln lebende Künstler selbst nennt diese Entwicklung auf dem Kunstmarkt „irrsinnig“. Die Summen hätten nichts mit den Werken zu tun, die zu Spekulationsobjekten werden. Dennoch: Richter, 1932 in Dresden geboren, gehört seit mehr als einem halben Jahrhundert zu den wichtigsten Malern der Gegenwart.

Der Bildband „Gerhard Richter Malerei“, nimmt mit auf eine künstlerische Zeitreise und zur Auseinandersetzung mit dem Künstler und seinem Werk. Sie beginnt mit der wenig bekannten Monotypien-Serie „Elbe“ von 1957 und dem Werk, das Richter selbst als erstes „reifes“ Bild bezeichnet: Mit „Der Tisch“, gemalt 1962, ein Jahr nach seiner Flucht mit seiner ersten Frau Marianne in den Westen. Als Student an der Kunstakademie Düsseldorf setzte er sich mit der Avantgarde der Nachkriegszeit auseinander, die Arbeiten und Wandmalereien nach seinem Studium an der Hochschule für Bildende Künstler in Dresden sollten endgültig Vergangenheit sein. „Der Tisch“, gemalt nach einer Fotovorlage, wird von Richter mit Lösungsmittel fast wieder auslöscht, übermalt, und bleibt dennoch als Ahnung erhalten.

Anwesenheit bei gleichzeitiger Abwesenheit durch Transformation, Übermalung – es bleiben zentrale Ansätze für Richter in seiner Auseinandersetzung mit Malerei und ihrem Vermögen, kollektive und persönliche Geschichte darzustellen. Seine Wege und Ergebnisse sind dabei vielgestaltig. Sie drücken sich in den berühmten grauen Bildern aus, in bunten Farbtafeln als „Nullpunkt der Malerei“, in fast romantisch anmutenden Wolken- und Seebildern oder in den farbigen abstrakten Bildern etwa der Serie „Cage“, in denen die Farben in dickem Auftrag und Übermalungen Strukturen bilden und sich Malerei in ihrer Wirkung ganz auf die eigenen Mittel verlässt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Kunstbuch & Fotografie Malerei

Benjamin H. D. Buchloh (Hrsg.): Gerhard Richter. Malerei (Painting After All)
Walther König, 320 Seiten, 39,90 €

Leben und Zeitgeschichte
Richter geht ernsthaft und subtil vor. Seine berühmten ab- oder übermalten Fotografien, bei denen er die noch feuchte Farbe verwischt und so den Eindruck von Unschärfe entstehen lässt, geben ihre tiefere Bedeutung nur durch Hintergrundwissen preis. So ist seine „Tante Marianne“ mehr als ein schönes Familienfoto. Sie wurde von den Nazis ermordet, ein Opfer des Euthanasiemordprogramms. Die übermalten Fotografien dokumentieren aber auch Richters Auseinandersetzung mit Fotografie und Malerei oder mit Werken anderer Meister: Wie Vermeers „Briefleserin“ inszeniert er das Porträt seiner dritten Frau, der Malerin Sabine Moritz, oder zeigt sie mit dem neugeborenen Sohn Moritz auf dem Arm, dem ersten ihrer drei gemeinsamen Kinder.


Richters Werk kreist um das gegenwärtige Leben und um Zeitgeschichte. Bei der für ihn wichtigen Frage wie sich der Holocaust im Gedächtnis erhalten oder kollektive Traumata wie 9/11 darstellen lassen, kommt Richter zu anderen Antworten als bei den übermalten Fotografien. 2014 malt er vier abstrakte Bilder mit dem Titel „Birkenau“. Dick aufgetragene Farbschichten in Grau- Schwarz- und Rottönen ziehen sich in dicken Schlieren über die Leinwand, verdecken die Fotos, die jeweils darunterliegen: heimliche Aufnahmen eines KZ-Häftlings aus dem Lageralltag, die erschauern lassen.


Seit den 60er Jahren hat sich Richter immer wieder mit diesen Fotografien befasst, Abmalungen oder farbige Übermalungen aber als zu banal oder zu anfällig für Sensationsgier verworfen. Ähnlich im Bild „September“, auf dem graue Farbflächen die Türme des World Trade Centers nur noch erahnen lassen, in die gerade zwei Flugzeuge rasen. Der frühere Kommentar Richters zu abstrakter Malerei wird in diesen späten Werken begreifbar: „Abstrakte Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber schließen.“

Text: Anita Strecker