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Literatur & Sachbuch

Tauchen Sie ein in die Welt der Literatur – entdecken Sie die Neuerscheinungen des Herbstes und erleben Sie ihre Lieblingsautor*innen hautnah.

Portrait: Ulla Lenze

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Ulla Lenze

© Julien Menand

Zwischen den Welten

In ihrem abgründigen Roman „Der Empfänger“, der in die Zeit des Zweiten Weltkriegs entführt, erzählt Ulla Lenze die Lebensgeschichte ihres Großonkels. Die Autorin, die sich gerne zwischen den Kulturen bewegt, ist derzeit Stadtschreiberin in Bonn.

Ulla Lenze ist viel unterwegs. Reisen und schreiben gehören für die 1973 in Mönchengladbach geborene Schriftstellerin zusammen. Bereits als 16jährige Schülerin hat sie ein halbes Jahr in der Fremde bei einer indischen Familie gelebt, sie war Stadtschreiberin in Damaskus und neun Monate Writer in Residence in Mumbai. Sie kennt Istanbul und Basra. Ihre Romane profitieren von diesen Erfahrungen. Bereits ihr 2003 erschienenes Debüt „Schwester und Bruder“ erzählt davon, welche umstürzenden Wirkung die Begegnung mit einer ganz anderen Lebenswirklichkeit haben kann.

Ihr aktueller Roman „Der Empfänger“ führt erstmals auch in eine andere Zeit. Ulla Lenze folgt einem deutschen Auswanderer nach New York, wo er sich während des Zweiten Weltkriegs für den NS-Geheimdienst einspannen lässt. Den abgründigen, konflikthaft aufgeladenen Stoff hat sie diesmal nicht auf ausgedehnten Reisen gefunden. Er fiel ihr im rheinländischen Elternhaus buchstäblich in die Hände: Die Rede ist von einem umfangreichen Briefwechsel zwischen ihrem Großvater Carl, einem Seifenhändler aus Neuss, und dessen in die USA ausgewandertem Bruder Josef.
„Ich merkte beim Lesen der Briefe eine Diskrepanz zwischen dem Bild, was entstand, nämlich eines weltoffenen, auch ideologiefreien Menschen und dem Wissen, dass er ein verurteilter Naziagent war. Aus der Frage, wie das zueinanderpasst, hat sich dann die literarische Figur des Josef Klein entwickelt“, sagt die Autorin. Acht Jahre, von 1941 bis 1949, verbringt Klein im Gefängnis und im Internierungslager. Dann wird er von den Amerikanern nach Deutschland abgeschoben. Aber in der alten Heimat fühlt er sich fremd.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Der Empfänger

Ulla Lenze: Der Empfänger
Klett-Cotta, 302 Seiten, 22,- €

Es ist eine Empfindung, die der Autorin vertraut ist: „Ich bewege mich immer wieder zwischen den Kulturen und zwischen den Welten und konnte mir vorstellen, wie das für einen ist, der nicht weiß, wo er hingehört“, sagt sie. Derzeit ist Ulla Lenze Bonner Stadtschreiberin. Damit verbunden ist die Residenzpflicht in einer Wohnung in Bad Godesberg. Aber danach wird sie sich vermutlich schon bald wieder auf den Weg machen in ferne Weltgegenden.

Text: Holger Heimann

Im Gespräch: Robert Seethaler

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Robert Seethaler

© UrbanZintel

„Ich glaube, man muss die Figur neu erfinden“

Mit „Der letzte Satz“ hat Schriftsteller Robert Seethaler ein ergreifendes Buch über Gustav Mahlers letzte Reise geschrieben. Im Interview erläutert er, wie es dazu kam und was ihn mit Mahler verbindet.

Was bedeutet Ihnen die Musik von Gustav Mahler?
Robert Seethaler: Ich war vor 30 Jahren im Theater in der Nähe Wiens und habe zum ersten Mal bewusst Mahler gehört, einen kleinen Ausschnitt aus der ersten Sinfonie. Das ist hängengeblieben. Bereits zuvor als junger Mann in einem Kibbuz bin ich einmal mit Mahlers Musik in Berührung gekommen, aber das ist eine andere Geschichte. Es ist wie in der Literatur, wenn man einen Ton anschwingt, dann schwingt er weiter. Und wenn man Glück hat, dann bleibt er auch. Aber ich kann gar nicht so viel Musik hören, auch nicht die von Gustav Mahler. Es ist, als würde mich diese Musik bestürmen. Ich will aber höchstens angeweht werden. Ich muss eher dem Schweigen das Wort entringen, der Stille.

Im Roman heißt es einmal: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür.“ Ist das nicht schwierig bei einem Buch über einen berühmten Komponisten?
Mich hat nicht der Mythos Gustav Mahler interessiert, sondern das Ereignis der Menschlichkeit dahinter. Musik ist unbeschreiblich, so soll es auch sein. Das Problem ist, dass eigentlich alles unbeschreiblich ist. Man kann nicht den Bildern hinterherschreiben, sondern muss sich langsam herantasten.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Der letzte Satz

Robert Seethaler: Der letzte Satz

Hanser Berlin, 126 Seiten, 19,- €

Es ist viel geschrieben worden über Gustav Mahler. Haben Sie das meiste gelesen?
Ich habe die Biografie von Jens Malte Fischer gelesen, mehr nicht. Ich glaube, man muss, um jemanden nahe zu kommen, die Figur neu erfinden, anstatt ihr hinterher zu schreiben. Das habe ich versucht. Ich bin kein Journalist, der über Wochen und Monate Gustav Mahler hinterherrecherchiert. Es geht eher darum, mich an das heranzutasten, was den Menschen ausmacht.

Ist Ihnen Mahler durch den Roman näher gerückt?
Nein, aber das macht nichts. In der Distanz ist ja oftmals ein klareres Sehen möglich. Wenn etwas zu nahe rückt, dann verschwimmt es bloß. Ich habe versucht, mich zu ihm hinzubewegen. Aber er ist für mich fremd. Vielleicht ist es das Fremdsein, das mich anzieht. Wie fremd war er in der Welt? Er hat sich ja selbst immer als Fremder gesehen. Und wie fremd bin ich in der Welt? Ich kann keine wirkliche Nähe zu Mahler erleben. Gleichzeitig ist da etwas, was sehr anziehend wirkt oder interessant, und dem habe ich versucht nachzugehen. Vielleicht ist es die Fremdheit in mir.  

Interview: Holger Heimann

Buchempfehlung und Porträt: Olga Grjasnowa

Kulturschock auf dem Land

Olga Grjasnowa gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation. In ihrem neuen Roman „Der verlorene Sohn“ erzählt sie von einem Jungen, der, herausgerissen aus seiner Heimat, zwischen den Kulturen und den Religionen steht.

Olga Grjasnowa

Olga Grjasnowa hat eine bewegte Lebensgeschichte. Sie wurde 1984 in Baku in eine russisch-jüdische Familie hineingeboren und emigrierte 1996 mit ihrer Familie nach Deutschland. Der Anfang in Hessen ist kompliziert, denn sie spricht kein Wort Deutsch. Doch es sind nicht die kulturellen Unterschiede zwischen Aserbaidschan und Deutschland, die ihr besonders auffallen, die Differenzen zwischen Stadt und Land wiegen schwerer.

„Wir kamen aus Baku und sind auf dem Dorf gelandet. Hier gab es noch nicht einmal einen Bus. Ich kannte zuvor kein Landleben. Das war der größere Kulturschock für mich“, sagt sie. Deutsch lernt sie rasch, sie spricht es bis heute mit sanft russischer Klangfarbe. Später studiert sie Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Leipzig, zudem noch Kunstgeschichte, Slawistik und Tanzwissenschaft.

In ihrem gefeierten Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, das 2012 erschienen ist, erzählt sie von der Ortlosigkeit einer jungen Generation in der globalisierten Welt. In einem späteren Roman konfrontiert sie ihre Leser mit den Schrecken des Bürgerkriegs in Syrien und den Zumutungen der Flucht.

Der verlorene Sohn

Olga Grjasnowa: Der verlorene Sohn
Aufbau, 383 Seiten, 22,- €

Stets hat Grjasnowa gegenwärtige Lebenswirklichkeiten zur Sprache gebracht. Ihr neuer Roman „Der verlorene Sohn“ führt nun überraschend ins 19. Jahrhundert. Ein Junge, der einmal die muslimischen Völker des Nordkaukasus anführen soll, wird verschleppt und am Hof des Zaren in Sankt Petersburg zum russischen Offizier geformt. Die Welt seiner Herkunft verblasst immer mehr. Als er nach 15 Jahren zurückkehren soll, bedeutet das mitnichten die Erfüllung einer Sehnsucht. Zuletzt gehört er nirgendwo ganz dazu und ist nirgendwo mehr heimisch.

Olga Grjasnowa zeigt mit viel Gespür für Nuancen, wie schwer, ja aussichtlos es sein kann, fremden Zuschreibungen und Markierungen zu entkommen – zumal in einer Welt, in der strenge ethnische und soziale Grenzlinien gezogen werden. „Der verlorene Sohn“ erzählt eine traurige Geschichte aus einer anderen Epoche und orientiert sich dabei an historischen Tatsachen. Die Fragen nach Fremdheit und Zugehörigkeit aber, die der Roman berührt, sind aktuelle Fragen geblieben. Für die Autorin sind es Lebensthemen.

Text: Holger Heimann

Im Fokus: Lesenswerte Neuerscheinungen

Ganz normale Menschen

Trauer und Abschied, Freiheit und Liebe: In diesen Büchern steckt jede Menge Leben – und viel literarische Qualität! Für anregende Lektürestunden im Herbst können Sie mit den folgenden Empfehlungen nichts falsch machen.

Die Erfahrung tödlicher Gewalt hat David Vann geprägt, seine Bücher kreisen geradezu obsessiv um schmerzliche Verluste, um Schuld und Versagen. In „Momentum“ erzählt er von den letzten Tagen im Leben seines Vaters. Der Roman bleibt dabei ganz nah bei seiner von Depressionen geprägten Hauptfigur und zeichnet deren Weg hin zum Selbstmord als einem unausweichlichen Finale nach.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Momentum

David Vann: Momentum

Übersetzt von Cornelius Reiber.

Hanser Berlin, 302 Seiten, 24,- €

Kaum weniger bedrohlich ist die Reise, die ein alkoholkranker Soziologieprofessor aus Berlin in Bov Bjergs „Serpentinen“ unternimmt. Der Mann will seinem Sohn eigene Kindheitsorte auf der Schwäbischen Alb zeigen und kämpft zugleich mit einer dunklen Familientradition. Die männlichen Vorfahren des Erzählers haben sich allesamt umgebracht. Ein abschüssiger, kurvenreicher Trip.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Serpentinen

Bov Bjerg: Serpentinen

Claassen, 272 Seiten, 22,- €

Das Unterwegssein hat Wolfgang Büscher immer wieder Stoff für großartige Bücher geliefert. Doch diesmal ist sein Bewegungsradius eng begrenzt: Er zieht in eine abgelegene Waldhütte. In der Abgeschiedenheit entdeckt Büscher den süßen Geschmack der Freiheit, Kindheitserinnerungen blitzen auf. Ein feinfühliges Buch, das vom Zur-Ruhe-Kommen, von einer „Heimkehr“ erzählt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Heimkehr

Wolfgang Büscher: Heimkehr

Rowohlt Berlin Verlag, 208 Seiten, 22,- €

Eine bestechende Recherche unternimmt Michael Kleeberg im Buch „Glücksritter“. Der Wunsch, seinen verstorbenen Vater, mit dem ihn eine Hassliebe verbindet, zu verstehen weitet sich zur Betrachtung einer Generation und wird zugleich zur einer schmerzhaften Selbstbefragung.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Glücksritter

Michael Kleeberg: Glücksritter

Recherche über meinen Vater.
 Galiani Berlin, 240 Seiten, 20,- €

Ein Gegenstück aus östlicher Perspektive liefert die in Weimar geborene Dramatikerin Olivia Wenzel in ihrem ersten, autobiografisch grundierten Roman. „1000 Serpentinen Angst“ verbindet dabei das Nachdenken über eine schwierige Familiengeschichte mit einem sensiblen Gegenwartsbewusstsein.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur 1000 Serpentinen Angst

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

S. Fischer Verlag, 352 Seiten, 21,- €

Einen Roman der Trauer hat Sigrid Nunez mit „Der Freund“ geschrieben. Eine Schriftstellerin versucht, mit dem überraschenden Freitod ihres besten Freundes zurande zu kommen. Trost findet sie dabei im Zusammenleben mit einem Hund, den ihr der Verstorbene hinterlassen hat. Ihre sehr persönlichen Notizen eines Trauerjahres werden zum eindringlichen Nachdenken über das Leben.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Der Freund

Sigrid Nunez: Der Freund

Übersetzt von Anette Grube.

Aufbau Verlag, 235 Seiten, 20,- €

Einer besonderen Beziehung nähert sich auch die als „Stimme der Millennials“ gefeierte Sally Rooney. „Normale Menschen“, der zweite Roman des irischen Shootingstars, folgt der Gefühlsachterbahn zweier junger Verliebter, die nie dauerhaft zueinander finden, aber auch nicht ohne einander sein können. Es ist eine alte Geschichte, Rooney erzählt sie auf ganz eigene Art.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Normale Menschen

Sally Rooney: Normale Menschen

Übersetzt von Zoë Beck.
 Luchterhand, 320 Seiten, 20,- €

3 Lesetipps

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Harte Jahre

Mario Vargas Llosa: „Harte Jahre“
Übersetzt von Thomas Brovot.
Suhrkamp, 412 Seiten, 24,- €

Mario Vargas Llosa: „Harte Jahre“
Übersetzt von Thomas Brovot.
Suhrkamp, 412 Seiten, 24,- €

Der Zynismus der Macht
Das Werk Mario Vargas Llosas ist geprägt von der Auseinandersetzung mit dem wiederkehrenden Grundübel vieler Länder Lateinamerikas: dem skrupellosen Diktator. Auch in „Harte Jahre“ bleibt der engagierte Autor und Nobelpreisträger seinem Lebensthema treu. Eng an der historischen Wahrheit erzählt der spannende und düstere Politthriller, wie sich zynische Militärs Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Guatemala mit Unterstützung der CIA an die Macht putschen. Sie stürzen ein Land, das sich Reformen verschrieben hat, ins Chaos und sorgen so dafür, dass es weiterhin eine Bananenrepublik bleibt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Ich an meiner Seite

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Zsolnay, 272 Seiten, 23,- €

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Zsolnay, 272 Seiten, 23,- €

Prekäre Verhältnisse
Birgit Birnbacher kennt sich mit kurvenreichen Biografien aus, sie ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Sozialarbeiterin. Ihr Schreiben profitiert von der genauen Kenntnis prekärer Verhältnisse und menschlicher Randlagen. Ihr zweiter Roman „Ich an meiner Seite“ zeigt, wie schwer es für einen ehemaligen jugendlichen Strafgefangenen ist, im Leben wieder Fuß zu fassen. Das liegt weniger daran, dass der Haftentlassene auf einen Therapeuten trifft, der selbst nicht klarkommt. Vielmehr erzählt die 35-jährige Österreicherin präzise von traumatischen Ereignissen der Gefängniszeit und von den Vorurteilen einer sich aufgeklärt wähnenden Gesellschaft.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Hamster im hinteren Stromgebiet

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet
Alle Toten fliegen hoch, Band 5.
Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 24,- €

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet
Alle Toten fliegen hoch, Band 5.
Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 24,- €

Der Verausgabungskünstler als Notfall
Der Schauspieler und Autor Joachim Meyerhoff hat sein Leben auf die Bühne gebracht und es Buch für Buch mit großem Erfolg aufgeschrieben. Jetzt hat das autobiografische Projekt eine unverhoffte Fortsetzung gefunden. Kurz nach seinem 51. Geburtstag wird der Verausgabungskünstler durch einen Schlaganafall plötzlich aus allen Selbstverständlichkeiten gerissen. Er kommt als Notfall auf die Intensivstation eines Wiener Krankenhauses und weiß nicht, ob er je wieder Theater spielen kann. Existenziell verunsichert sucht und findet der Kranke einen ganz eigenen Weg aus der Krise: Meyerhoff redet gegen den Schlaganfall an. Sein bewegender Roman ist Ergebnis einer tragikomischen Selbstbehauptung.

30 Jahre Wiedervereinigung

Bilanz ziehen

1990: Die von vielen herbeigesehnte deutsche Einheit ist da – verbunden mit großen Erwartungen, aber auch mit Ängsten und Sorgen. Wo steht das Land 30 Jahre später? Diese Bücher helfen bei der Einordnung der Ereignisse und der Situation heute.

Licht und Schatten
Der Journalist und Historiker Kai-Axel Aanderud wirft in seinem faktenstarken Buch einen kritischen Blick auf die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklungen in Deutschland seit 1990 und zieht Bilanz. Dabei wird deutlich, dass schon vieles, aber längst noch nicht alles erreicht wurde. Einefundierte Analyse, die zum Nachdenken anregt und vor allem denjenigen Lesern viel Neues bietet, die im vereinten Deutschland aufgewachsen sind.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur 30 Jahre deutsche Einheit

Kai-Axel Aanderud: 30 Jahre deutsche Einheit
Mittler, 272 Seiten, 24,95 €

Berliner Republik
Seit 1990 hat sich Deutschland rasant verändert und musste sich in diesen 30 Jahren immer wieder neuen Herausforderungen stellen. Wie das Land diese innen- und außenpolitischen Herausforderungen gemeistert hat (und meistert), welche Spaltungen in der Gesellschaft nach wie vor existieren und welche Erfolge zu verzeichnen sind, schildert Edgar Wolfrum in seiner lesenswerten Geschichte der Berliner Republik.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Der Aufsteiger

Edgar Wolfrum: Der Aufsteiger
Klett-Cotta, 368 Seiten, 24,00 €

Lernen aus der Geschichte
Deutschland erfindet sich immer wieder neu, so die These von „FAZ“-Politikredakteur Reinhard Müller, der sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt hat, worin genau diese kreative Stärke besteht. Woraus speist sich das deutsche Selbstverständnis und wie schaut die Welt 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auf das Land? Eine Bestandsaufnahme ohne Beschönigungen.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Schwarz Rot Gut

Reinhard Müller: Schwarz Rot Gut
Frankfurter Allgemeine Buch, 208 Seiten, 20,– €

Blick zurück im Zorn
Es ist kein wohlwollender Blick, den Daniela Dahn und Rainer Mausfeld in ihrem Buch auf 30 Jahre Einheit werfen. Sie konstatieren eine immer noch große Kluft zwischen Ost und West und fragen nach den Gründen dafür. Wie hat sich das Ganze damals wirklich abgespielt und wer hat am meisten vom „Ausverkauf des Ostens“ profitiert? Das ist pointiert formuliert und liest sich spannend wie ein Krimi. Ein linker Ansatz mit Substanz.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Tamtam und Tabu

Daniela Dahn, Rainer Mausfeld: Tamtam und Tabu
Westend, 240 Seiten, 18,– €

Texte: Claudia Finke

Buchempfehlung

Die Strafen der Zukunft

Etwa 64.000 Menschen sitzen derzeit in deutschen Gefängnissen ein. Doch ist der Freiheitsentzug tatsächlich immer die sinnvollste Form der Strafe? Der Jurist Thomas Galli sieht das kritisch.

Frankfurter Buchmesse 2020 Thomas Galli

© Ronald Hansch

Eine Welt ohne Gefängnisse? Unvorstellbar, schließlich gilt die Haftstrafe seit Jahrhunderten als bewährte Form, um Verbrecher zu maßregeln. Dort, fernab des normalen Alltags, sollen die Verurteilten ihre Tat büßen und bereuen und sich so weit resozialisieren, dass sie anschließend als „bessere“ Menschen ihren Platz in der Gesellschaft finden. So zumindest die Theorie. Die Praxis sieht ganz anders aus.

Der Jurist Thomas Galli, der selbst zwei Gefängnisse geleitet hat, zweifelt bei den meisten Fällen am Sinn einer Haftstrafe: Die Rückfallquoten sind hoch, und weder übernehmen die Täter Verantwortung für ihre Taten, noch leisten sie gar Wiedergutmachung. Sieht man von der Verwahrung hochgefährlicher Straf­täter ab, nützen Gefängnisse niemandem.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Literatur Weggesperrt

Thomas Galli: Weggesperrt
Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, 312 Seiten, 18,– €

Darum muss man, wie Galli es tut, über alternative, zweckmäßigere Formen von Strafe und Resozialisierung nachdenken, die auch Perspektiven und Wünsche der Opfer berücksichtigen. Galli gewährt anhand von Beispielen ausführlich Einblick in den Strafvollzug und widerlegt mit starken Argumenten die üblichen Begründungen für Haftstrafen. Um wirklich Gerechtigkeit, vielleicht gar Versöhnung zu schaffen, ist aus seiner Sicht eine radikale Veränderung des Strafrechts nötig. Konkrete Vorschläge, wie die Strafen der Zukunft aussehen könnten, runden diese spannende, gut zu lesende Auseinandersetzung mit einem brisanten Thema ab.

Text: Sabine Rock