"Eine 'Verfassungsviertelstunde' ersetzt keine umfassende politische Bildung."

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+++ Lesen Sie auch unsere Pressemitteilung zum Thema Bildungsmedien auf der FBM25 und das neue Praxis-Forum Bildung(Öffnet neues Fenster) für Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte +++
Simone Fleischmann ist Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) und eröffnet dieses Jahr das Programm im Forum Bildung auf der Frankfurter Buchmesse.(Öffnet neues Fenster) Im Interview spricht sie über ihre persönlichen Erfahrungen mit Demokratiebildung, warum gelebte Pädagogik oft wichtiger ist als ein starrer Lehrplan – und was Schule heute leisten muss, um Kinder und Jugendliche zu verantwortungsvollen Mitgliedern unserer Gesellschaft zu machen. Auch an die Schulbuchverlage hat sie klare Erwartungen.
Frau Fleischmann, Sie eröffnen das Forum Bildung der Frankfurter Buchmesse mit einer Veranstaltung zur Demokratiebildung. Was verstehen Sie darunter – und warum ist es Ihnen so wichtig, dieses Thema in den Mittelpunkt zu rücken?
Mir ist es wichtig, dass junge Menschen, den Wert der Demokratie sowie ihre Prinzipien und Funktionsweisen für Politik und gesellschaftliches Miteinander verstehen und kritisch reflektieren können. Nur so werden sie letztlich auch nach den demokratischen Prinzipien handeln und dafür einstehen. Ich stehe für Toleranz, Solidarität und Respekt. Deswegen bin ich überzeugt, dass gerade in gesellschaftlich angespannten Zeiten wir uns umso mehr dafür einsetzen müssen. Haltung zählt!
Wo sehen Sie aktuell die größten Defizite, damit Schulen Orte der Demokratiebildung sein können – und wo gibt es bereits gute Ansätze?
Es gibt tolle Schulen, die in Sachen Demokratiebildung bereits einiges leisten. 2023 hat die Eichendorffschule in Erlangen den Deutschen Schulpreis gewonnen. Ihr Erfolg zeichnet sich u.a. durch das integrative und partizipative Schulleben aus. Es gibt einen wöchentlichen Klassenrat, die Direktwahl der Schülersprecherinnen und -sprecher, die Vollversammlungen der verschiedenen Lernhäuser oder Demokratieworkshops. Besonders wichtig ist mir die dahinterstehende Haltung. Die Eichendorffschule hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt Bildungsungerechtigkeiten zu minimieren. Damit einhergeht bspw., dass Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen Tempo lernen. Statt Selektion wird hier auf Differenzierung gesetzt. Schülerinnen und Schüler sind in ihrer Vielfalt und Heterogenität willkommen. Das ist für mich gelebte Demokratie.
Dennoch ist klar: Haltung allein reicht nicht. Demokratiebildung braucht auch fundiertes Wissen und Kompetenzen. Hier hat Bayern Nachholbedarf.
Welche konkreten Forderungen haben Sie an die Bildungspolitik, um Schulen stärker zu demokratischen Orten zu machen?
Wir brauchen eine klare Stärkung der Lehrkräfte in ihrer Rolle als Demokratinnen und Demokraten. Wer Demokratiebildung ernst nimmt, muss Lehrkräfte nicht nur fachlich qualifizieren, sondern auch befähigen, dies im Unterricht und in der Schulentwicklung umzusetzen. Wir müssen also bei der Lehrkräftebildung ansetzten. Außerdem braucht es mehr Unterrichtsstunden für Politik, fachlich qualifiziertes Personal und eine konsequente fächerübergreifende Verankerung. Eine „Verfassungsviertelstunde“ ersetzt keine umfassende politische Bildung.
Sie fordern: „Lehrkräfte dürfen nicht neutral sein.“ Was bedeutet das konkret für den Alltag im Klassenzimmer, gerade bei kontroversen Themen wie Krieg, Migration oder Klimakrise?
Neutralität bedeutet nicht Haltungslosigkeit. Lehrkräfte sind zwar parteipolitisch neutral, aber verpflichtet, Demokratie und Menschenwürde aktiv zu verteidigen. Wer verfassungsfeindliche Positionen vertritt oder unsere demokratische Ordnung angreift, dem müssen Schulen klar entgegentreten.
Für den Unterricht und die einzelne Lehrkraft bedeutet das, dass kontroverse Themen wie Krieg, Migration oder Klimakrise multiperspektivisch und sachlich zu behandeln ohne Schülerinnen und Schüler in ihrer Wahlentscheidung zu beeinflussen. Grundlage sind Beutelsbacher Konsens, die Landesverfassungen oder das Beamtenstatusgesetz, die eine klare Abgrenzung gegen verfassungsfeindliche Positionen einfordern.
Die Frankfurter Buchmesse versteht sich als „Marktplatz der Ideen“. Welche Rolle können Verlage und andere Akteure der Buch- und Bildungsbranche im Spannungsfeld von Demokratiebildung, Leseförderung und Digitalisierung spielen?
Wer Demokratiebildung in Schulen verankern will, ist auf qualitativ hochwertige Materialien angewiesen. Verlage tragen Verantwortung dafür, welche Stimmen und Lebensrealitäten sichtbar werden – und welche nicht. Demokratiebildung muss sich in Lernmaterialien widerspiegeln. Lehrkräfte brauchen Zugang zu den besten und neuesten Angeboten, um Schulen zu Orten gelebter Demokratie zu machen.
Wenn Sie an Ihre eigene Schulzeit zurückdenken: Was hat Sie persönlich am stärksten demokratisch geprägt?
Wenn ich zurückdenke, gibt es ein Erlebnis, das mich nachhaltig demokratisch geprägt hat. Mein Vater hat damals in einer 9. Klasse das Fach Erziehungskunde unterrichtet. Das Fach gibt es heute nicht mehr, aber es ging im Wesentlichen darum, junge Menschen in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung zu unterstützen und sie zu mehr Verantwortungsbewusstsein zu führen. Ich war damals noch im Kindergartenalter und durfte einmal mit in den Unterricht kommen. Für mich war das ein Abenteuer, für die Jugendlichen eine Herausforderung. Und sie haben es großartig gemeistert. Sie haben sich sofort um mich gekümmert und gemeinsam Verantwortung übernommen.
Aus einer Stunde, die eigentlich Fachinhalte vermitteln sollte, wurde plötzlich eine Stunde, in der Erziehungskunde live erlebbar war. Ich habe gespürt, was es bedeutet, füreinander einzustehen. Als Kind war das einfach toll, aber rückblickend weiß ich, dass das gelebte Pädagogik und für mich ein prägendes demokratisches Erlebnis war.
Demokratie zu leben bedeutet für mich: Herausforderungen, die auf der Straße liegen anzunehmen und einen verantwortungsvollen Umgang damit zu finden. In manchen Fällen bedeutet das, dass man auch mal vom Lehrplan abweichen muss.
Über Simone Fleischmann
Simone Fleischmann hat in München Hauptschullehramt und Schulpsychologie studiert. Nachdem sie ihr Referendariat abgeschlossen hatte, arbeitete sie an einer Schule in Feldkirchen bei München. Dort wurde sie außerdem Betreuungs- und Praktikumslehrerin. Neben der Arbeit in der Schule war sie außerdem Referentin für regionale und zentrale Fortbildung der Lehrkräfte und Schulleitungen in Bayern sowie Zweitprüferin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ferner publizierte sie Literatur, u.a. „Das Methodenhandbuch Grundschule“ oder „Was tue ich, wenn … Umgang mit schwierigen Situationen im Grundschulalltag“. Sie leitete fast 10 Jahre lang in Poing bei München die größte Grund- und Mittelschule Bayerns. 2015 wurde sie als 1. Frau in der Geschichte des BLLV seit seiner Gründung 1861 Präsidentin. Außerdem ist sie stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Beamtenbundes und Tarifunion (dbb) sowie des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) und u.a. Mitglied in der Jury des Deutschen Schulpreises.
Simone Fleischmann auf der Frankfurter Buchmesse
Mittwoch, 15. Oktober, 12.30 bis 13.00 Uhr
Demokratie lehren, lernen und leben: Auftrag oder Auslaufmodell?
Forum Bildung, Halle 3.1 D12
Über das Forum Bildung
Das Forum Bildung, eine Kooperation von Frankfurter Buchmesse und Verband Bildungsmedien e. V., ist vom 15. bis 19. Oktober 2025 erneut Treffpunkt für alle, die Bildung voranbringen und diskutieren wollen. Auf der Bühne in Halle 3.1 (Stand D12) erwarten Besucher*innen Veranstaltungen zu Fragen aus Bildungspolitik, Pädagogik und Didaktik sowie zu den aktuellen Rahmenbedingungen für Bildungsmedienverlage. Am Messefreitag richtet sich das Programm im neuen Praxis-Forum Bildung gezielt an Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte – mit Angeboten zu Lern- und Schulkonzepten, Zugängen zum Lernen und Lernkultur. Die Teilnahme an Bühnenprogramm und Workshops ist im Rahmen des Messebesuchs kostenfrei und ohne Anmeldung möglich.