Kanadische Literatur: Aufschlussreich und vielfältig
© Véronique Soucy
Worin liegt für Sie der besondere Reiz Kanadas?
Ich lebe seit mittlerweile zehn Jahren halb in Deutschland und halb in Kanada, genauer gesagt in Québec. An Kanada gefällt mir vieles: die relative Offenheit der Gesellschaft, die Freundlichkeit der meisten Menschen, die weite Natur, die Wälder und Seen, die warmen Sommer, die schneereichen Winter. Natürlich ist auch hier nicht alles rosig, es gibt viele gesellschaftliche Probleme, vor allem der anhaltende Rassismus gegenüber Indigenen. Aber so langsam tut sich da etwas, die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, sich damit auseinanderzusetzten, ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen.
Wie würden Sie die kanadische Literatur in drei Worten beschreiben?
Unterhaltsam, aufschlussreich, vielfältig.
Gibt es in Ihrer Wahrnehmung Charakteristika, die für die Literatur Kanadas besonders kennzeichnend sind?
Man kann wirklich nicht von DER Literatur Kanadas sprechen (was im Prinzip natürlich für alle Länder gilt). Da Literatur aber immer in der einen oder anderen Form eine Auseinandersetzung mit Realität bedeutet, ist es schon möglich, ein paar Charakteristika zu nennen: Texte, die in den großen Städten spielen, thematisieren oft Aspekte der Einwanderungsgesellschaft oder indigenes Leben in der Großstadt. Soziale Utopien oder Dystopien spielen eine wichtige Rolle. Und das Verhältnis von Mensch und Natur ist auch ein wiederkehrendes Thema.
Wie äußert sich in Ihren Augen die ‚Singular Plurality‘ der kanadischen Literatur? Was verbinden Sie mit ‚Singular Plurality‘?
Bei „plurality“, also Pluralität, denke ich als erstes an die Mehrsprachigkeit der kanadischen Literatur: Kanadische Literatur gibt es auf Englisch, auf Französisch und auf indigenen Sprachen: Cree, Innu Aimun, Inuktitut, Anishnaabemowin und vielen mehr. Wobei man bedenken muss, dass die meisten indigenen Autor:innen auf Englisch oder Französisch schreiben, weil viele indigenen Sprachen nach Jahrhunderten kolonialer Unterdrückung nur noch von einer Minderheit gesprochen werden. Zum Glück gibt es aber zahlreiche Initiativen zur Revitalisierung dieser Sprachen.
Und die Pluralität ist eben „singular“, also einzigartig, weil jedes Mosaiksteinchen, aus dem die kanadische Pluralität besteht, einzigartig ist.
Bitte vervollständigen Sie folgende Satzanfänge:
Übersetzen ist … Übersetzen bedeutet für mich…
... ein wunderbarer Beruf, der mir großen Spaß macht und mir viele Freiheiten lässt.
Was fasziniert Sie am Übersetzen?
Dass man als Übersetzerin immer zwischen verschiedenen Sprachen und damit verschiedenen Welten vermittelt.
Welchen Herausforderungen begegnet man als Übersetzer*in kanadischer Literatur (etwa im Hinblick auf die kulturelle und sprachliche Vielfalt des Landes)
Man sollte sich beim literarischen Übersetzen immer gut mit der Sprache und Gesellschaft, aus der man Bücher übersetzt, auskennen. Man sollte eine Vorstellung davon haben, wie die Landschaft beschaffen ist, wie eine typische Tankstelle, Kneipe oder ein Eckladen aussehen, wie die Häuser auf dem Dorf und in der Stadt gebaut sind. So etwas lässt sich schwer recherchieren. Und natürlich sollte einiges über die Geschichte und die sozialen und politischen Konflikte wissen. Bei einem so großen Land wie Kanada ist das natürlich schwierig, weil man nicht alle Regionen kennen kann. Da muss man dann Einheimische befragen, viel im Internet nachlesen oder die Autorin, den Autor mit Fragen löchern.
Was war Ihre größte Schwierigkeit beim Übersetzen kanadischer Titel ins Deutsche?
Begriffe aus indigenen Kulturen oder aus dem Kolonialsystem, die in Kanada absolut verbreitet sind, für die es auf Deutsch aber keine Entsprechung gibt. Das Vokabular, was uns auf Deutsch zur Verfügung steht, stammt noch von Karl May und ist oft kolonialrassistische gefärbt (man denke nur an Begriffe wie „Stamm“ oder „Häuptling). Es ist gar nicht so einfach, im Deutschen Wörter zu finden, die ähnlich selbstverständlich klingen wie im kanadischen Französisch oder Englisch.
Was bereite Ihnen die größte Freude beim Übersetzen kanadischer Literatur?
Erst einmal dasselbe wie beim Übersetzen überhaupt: einen literarischen Text in einer anderen Sprache neu zu schreiben, also das Feilen an der Sprache, bis alle Bilder stimmig sind, bis der Rhythmus passt, bis der Sound des Textes getroffen ist. Und in Bezug auf kanadische Literatur: Ich freue mich immer, wenn ich mein Wissen über die kanadische Gesellschaft anwenden kann, indem ich es subtil in den deutschen Text einfließen lasse. Denn natürlich darf Literatur nicht pädagogisch oder erklärend wirken.
Sie haben den Gastrollen-Text Kanadas ins Deutsche übersetzt.
Um welche Art von Text handelt es sich? Was ist die Besonderheit des Gedichts von Georgette Leblanc?
Es handelt sich um ein zweisprachiges Gedicht, ursprünglich verfasst auf Französisch und Englisch, das zudem noch mit indigenen Konzepten spielt. Und dann verwendet Georgette Leblanc auch noch Zitate anderer kanadischer Autor:innen: die meisten Gedichtzeile sind Zitate aus anderen literarischen Texten. Es handelt sich also um ein vielstimmiges, intertextuelles Gedicht.
Wovon erzählt der Text?
Von den verschiedenen Facetten der kanadischen Identität: von Mehrsprachigkeit, vom französischem und englischen Erbe, von indigenen Traditionen, von der Einwanderung aus allen möglichen Gegenden der Welt. Davon, dass all das zusammenhängt, und dass wir alle miteinander verwoben sind. Von Altem und Neuem, von kreativer Energie.
Vor welche Herausforderungen stellte Sie dessen Übertragung ins Deutsche?
Die Zweisprachigkeit, also das Hin- und Herspringen zwischen dem Englischen und Französischen, war leider nicht ins Deutsche hinüberzubringen. Weil das deutsche Publikum eben nicht selbstverständlich beide Sprachen versteht (wobei das in Kanada auch nur eine Minderheit der Bevölkerung tut). Deshalb gibt es in der deutschen Fassung lediglich ein englisches Einsprengsel. Stattdessen auf die Mehrsprachigkeit habe ich mich auf Inhalt und Rhythmus konzentriert.
Welche Auswirkungen hatte die Covid-19-Pandemie auf Ihre Arbeit als Übersetzerin?
Bisher zum Glück nur geringfügige. Beim literarischen Übersetzen sitzt man ja eh allein am Schreibtisch, und die Verträge werden häufig ein Jahr im Voraus geschlossen. Im Frühjahr 2020 wurden allerdings mehrere Veranstaltungen abgesagt, bei denen ich – zum Teil allein, zum Teil mit einer meiner Autorinnen oder Autoren – aufgetreten wäre. Das war schon eine ziemliche finanzielle Einbuße, weil Moderationen und Lesungen im Vergleich zum eigentlichen Übersetzen einen Tick besser bezahlt sind. Aber abgesehen davon hat mein Auftragsvolumen bisher nicht abgenommen. Besonders getroffen hat mich natürlich die Verschiebung des Gastlandauftrittes Kanada. Da wären einige meiner Autor:innen angereist, und es hätte sicher gemeinsame Auftritte gegeben, die nun nicht stattfinden konnten. Im Herbst sind fünf Bücher aus Kanada in deutscher Übersetzung von mir erschienen, drei weitere sind auf das folgende Jahr verschoben worden.
Sonja Finck, geb. 1978, lebt in Berlin und Gatineau (Kanada) und übersetzt Romane und Theaterstücke aus dem Französischen und Englischen. Sie ist unter anderem die deutsche Stimme von Annie Ernaux. Einer ihrer Schwerpunkte ist die frankophone Literatur aus Québec. 2020 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Eugen-Helmlé-Preis ausgezeichnet.
Das Interview führte Ann-Kathrin Ludwig, Volontärin im Bereich internationale Beziehungen der Frankfurter Buchmesse.