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Er schafft den Spagat zwischen literarischem Anspruch und Bestsellertauglichkeit, er hält die Tradition eines der wichtigsten deutschen Verlagshäuser aufrecht, ohne gegenwärtige Strömungen aus dem Blick zu verlieren: Jonathan Landgrebe ist seit 2015 Verleger des Suhrkamp Verlages. Im Gespräch mit Buchmessedirektor Juergen Boos erklärt er, wofür der Verlag heute steht, warum die Ausrichtung nach Osteuropa wichtig ist, und warum der Suhrkamp Verlag nicht Bücher verlegt, sondern Autoren.

 

JB: Vor vielen Jahren, als ich in die Verlagsbranche kam, gab es zwei Literaturverlage, für die alle arbeiten wollten: Hanser und Suhrkamp. War das Ihr Berufswunsch, Suhrkamp-Verleger zu werden?

JL: Mit Büchern zu arbeiten, verlegerisch zu arbeiten, das war eine Idee, die ich ziemlich früh hatte. Und dann ist es natürlich der Suhrkamp Verlag mit dem, was er literarisch veröffentlicht hat, bis heute veröffentlicht, seinen Traditionslinien, der für mich ganz entscheidend war und ist.

 

JB: Suhrkamp wurde durch zwei Persönlichkeiten stark geprägt: Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Sehen Sie sich in der Tradition dieser Verleger?

JL: Ja natürlich, in dem Sinne, dass ich das Haus, welches sie gegründet und aufgebaut haben, auf dem von ihnen geschaffenen Fundament weiterführe und weiterentwickle. Doch persönlich kann ich mich nicht allein auf diese Verleger beziehen, dazu hat sich die Welt zu sehr verändert. Und gleichzeitig gibt es so viele Dinge, die man an beiden nur bewundern kann, die Vorbild sind, ich nenne einmal die Leidenschaft für die Literatur, die Ernsthaftigkeit und Verantwortung im Umgang mit Büchern und ihren Autoren, der offene Blick für gesellschaftliche Entwicklungen, die Fähigkeit zur Verbindung inhaltlichen und wirtschaftlichen Denkens und Handelns.

 

Wir verlegen keine Bücher, sondern Autoren

 

JB: Suhrkamp galt immer als ein Autorenverlag.

JL: Das gilt auch heute noch. Wir legen großen Wert darauf, dass Autoren bei uns sind und bei uns bleiben. Wir denken langfristig, wir möchten Autoren aufbauen, ihnen mit jedem weiteren Buch, das sie veröffentlichen, eine möglichst wachsende Leserschaft und Stimme zu geben. Das ist bis heute eines der Kernthemen dieses Hauses: Man verlegt keine Bücher, sondern Autoren. Dafür tun wir alles. Und wir vertreten dabei unsere Autoren mit allen Nebenrechten an ihren Werken auch weltweit, umfassend eben. Das Wandern von Verlag zu Verlag tut weder den Verlagen noch den Autoren gut.

 

JB: Betreuen Sie z.B. die „Großautoren“ noch selbst, wie es Suhrkamp und Unseld taten?

JL: Ich bin mit allen unseren Autoren in Kontakt, aber einen Briefwechsel wie von Thomas Bernhard und Siegfried Unseld, den gibt es heute nicht mehr. Wohl aber das intensive Miteinander, ein ständiges sich Abstimmen, sich im Austausch befinden, viel im Gespräch, meist per E-Mail, manchmal per Brief.

 

JB: Was ist das Besondere an Suhrkamp heute?

JL: Wir sind einer der wenigen verbliebenen unabhängigen Verlage, mit einem klaren intellektuellen Profil und führend im Verlegen deutschsprachiger Literatur. Kaum ein Haus des deutschsprachigen Raums inspiriert und spiegelt die Entwickelungen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens so umfänglich wie wir. Und wir verbinden ein ausgeprägtes Verständnis von Tradition mit einem ebenso ausgeprägten Sinn für die heutige Zeit. Und dann sind es natürlich viele programmatischen Schwerpunkte, die uns auszeichnen. Um nur einen zu nennen: Als der Verlag vor zehn Jahren von Frankfurt nach Berlin übersiedelte, war es auch ein Argument für den Standort Berlin mit seiner Nähe zu Osteuropa, dass wir einen starken Schwerpunkt im Bereich osteuropäischer Literatur haben. Ob zuletzt Sasha Marianna Salzmann, Katja Petrowskaja oder Maria Stepanova, einige der großen literarischen Erfolge, die wir in den letzten Jahren erreicht haben, haben einen Bezug zum Osten Europas. Da haben wir - übrigens auch mit der Vertretung der Weltrechte auch bei nicht deutschsprachigen Autoren - ein Alleinstellungsmerkmal.

 

JB: In den 1970er und 1980er Jahren hat Suhrkamp mit Entdeckungen wie Isabel Allende, Octavio Paz, Julio Cortázar oder Clarice Lispector lateinamerikanische Schriftsteller in Deutschland bekannt gemacht. Welche Sprachräume sind heute wichtig für Sie? 

JL: Wir veröffentlichen immer noch sehr viele Übersetzungen aus dem spanischsprachigen Raum und aus Lateinamerika, sind aber auch im Französischen sehr stark und verlegen deutlich mehr im Bereich anglo-amerikanische Literatur als früher. Asien ist eher kompliziert, weil der Resonanzraum sehr viel kleiner ist und die Sprachbarriere das Auffinden der Titel deutlich anspruchsvoller macht. Aber wir arbeiten beispielsweise gerade an der vollständigen Neuübersetzung eines der wichtigsten chinesischen Klassiker, Die Räuber vom Liang-Schan-Moor.

 

JB: Welche Trends gibt es in Deutschland zu entdecken? Kommt z.B. die Lyrik wieder?

JL: Lyrik ist immer aktuell, immer aufregend, immer wichtig, so halten wir es auch und veröffentlichen kontinuierlich weiter. Im Sachbuch tut sich immer noch viel. Suhrkamp hat sich erst spät einem allgemeinen Sachbuch zugewendet. Wir kommen ursprünglich eher von der Theorie, der Philosophie, den Sozialwissenschaften, haben heute aber ein starkes Non-Fiction-Programm, das von Biografien über Phänomene der Zeitgeschichte bis hin zum Klimawandel ganz verschiedene Themen abdeckt –, da sehe ich immer noch große Möglichkeiten. Wir sind jetzt bei etwa einem Drittel Non-Fiction insgesamt, das ist ein Bereich, der sehr lebendig ist und wächst.

 

JB: Und die Philosophie?

JL: Das Verlegen und die Verbreitung der deutschsprachigen Philosophie spielt eine riesige Rolle, ursprünglich zu großen Teilen fußend auf der Tradition der Frankfurter Schule. Denken wir an Theodor W. Adorno oder Walter Benjamin, heute an Jürgen Habermas oder Peter Sloterdijk, Autoren, die in viele Sprachen übersetzt sind, weltberühmte öffentliche Intellektuelle. Aber wir veröffentlichen auch viel aus dem Französischen, dem Englischen, d.h. es geht in beide Richtungen.

 

Lesen beginnt nicht mit Max Frisch oder Peter Handke

 

JB: Das Programm hat sich in den letzten 10 Jahren sehr verändert, erweitert: Eine Krimi-Reihe ist dazugekommen, der Sandmann Verlag, manchmal Kochbücher, jetzt noch Kinderbücher im Insel Verlag. Was bedeutet es für einen Verleger, so unterschiedliche Programmlinien in einem Traditionshaus zu vereinen?

JL: Auf der einen Seite hat der Suhrkamp Verlag ein dezidiert literarisches und intellektuelles Profil, daran halten wir fest, das leben wir. Auf der anderen Seite spiegelt der Verlag mit seinen Büchern und den etwa 350 Novitäten pro Jahr, das, was sich in der Gesellschaft tut. Grundidee ist, an dem anzuknüpfen, was der Verlag schon immer gemacht hat, aber es so zu interpretieren, wie es heute notwendig ist. Das Kinderbuch war in den 1970er, 1980er Jahren ein wichtiges Segment im Insel Verlag. Wir werden kein großes Kinderbuch-Programm publizieren, aber das eine oder andere Buch, denn das passt zum Haus und bedient gleichzeitig einen wichtigen Markt. Wir wissen, das Lesen beginnt nicht mit Büchern von Max Frisch oder Peter Handke, sondern viel früher mit Kinderbüchern. Und natürlich haben wir Autoren, die auch Kinderbücher schreiben und hier bislang keinen Platz dafür gefunden haben. Auch von daher ist das ein völlig stimmiger Gedanke.

 

JB: Angesichts rückläufiger Buchkäuferzahlen und schwindender Vielleser: Was müssen Verleger heute tun, um Bücher an die Leserinnen und Leser zu bringen?

JL: Der Resonanzraum ist nicht mehr derselbe wie früher, die klassischen Medien haben als Vermittler nicht mehr die Position, der stationäre Buchhandel leider auch nicht mehr im selben Maße. Dadurch wird es immer wichtiger, dass Verlage selbst aktiv werden. Wir haben früh angefangen, den Direktkontakt zwischen Verlag und Lesern aufzubauen bzw. auch den zwischen Autoren und Lesern. Das wird sich die nächsten Jahre weiter intensivieren.

Man muss heute jedes einzelne Buch immer wieder neu als Herausforderung begreifen, unabhängig davon, ob man es 2.000, 3.000 oder 100.000 mal verkaufen will. Man muss sich für jedes Buch neu überlegen, was man tut, und das von Buch zu Buch, von Autor zu Autor in unterschiedlicher Form.

 

JB: Netflix, Audible oder Hulu experimentieren mit neuen Storytellingformaten, die Produzenten haben einen großen Appetit auf Geschichten.

JL: Filmrechte vergeben wir natürlich, das begreifen wir als integralen Bestandteil unserer Arbeit, wir spüren auch, dass die Nachfrage nach Stoffen steigt. Wir hatten auch einen schönen Erfolg mit Uwe Tellkamps „Der Turm“, auch Lutz Seilers „Kruso“ wurde verfilmt, es gibt neue, große Filme zu Werken Bertolt Brechts oder Hermann Hesse. Aber für uns bleiben die Bücher zentral und die Übersetzungen der Bücher ins Ausland. Film spielt eine Rolle, aber im Verhältnis nur für eine kleinere Anzahl der Titel.

 

Das gedruckte Buch wird weiterhin eine dominante Rolle spielen

 

JB: Sie verlegen auf der einen Seite die Bestsellerromane einer Elena Ferrante, gleichzeitig entdecken Sie ungewöhnliche literarische Debuts, wie Philipp Weiss’ Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen ...

 

JL: Beides gehört dazu und oft befruchten sich Dinge gegenseitig, von denen man es vielleicht gar nicht erwartet hat. Der Erfolg von Annie Ernaux z.B., ist eine solche Suhrkamp-Erfolgsgeschichte. Wir hatten mit Didier Eribon bereits großen Erfolg, mit Elena Ferrante nun eine wirkliche Bestsellerautorin, Rachel Cusk verlegt, alle geprägt vom autobiographisch fiktionalen Schreiben, und dann konnten wir Annie Ernaux gewinnen, die das Genre fast erfunden hat und die der deutsche Buchmarkt bisher übersehen hatte. Und das hat wunderbar funktioniert, ein Erfolg, der sich auch aus dem Zusammenspiel von ganz unterschiedlichen Autoren und ihren Büchern ergeben hat. Im Moment gelingt uns das sehr gut. 2017 war das beste Jahr der Verlagsgeschichte, und auch 2018 ist für uns gut gelaufen.

 

JB: Rainald Goetz hat aus seinen Blogtexten ein Buch gemacht, und das eben erwähnte Debut von Philipp Weiss lotet die Grenzen des Romans aus – formal und gestalterisch. Ist das symptomatisch? Man probiert etwas aus, und am Schluss ist dann doch das Buch, ob elektronisch oder gedruckt, die richtige Form?

JL: Ich bin ohnehin überzeugt davon, dass das Buch die richtige Form ist. Wir bieten alles, was wir tun, selbstverständlich auch digital an, aber das gedruckte Buch wird weiterhin eine dominante Rolle spielen. Was die Branche über der jahrelangen Diskussion „E-Book oder gedruckt“ vergessen hat, ist die Veränderung der Gesellschaft durch die Digitalisierung: die Art und Weise, wie sich Menschen informieren, wie sie kommunizieren, die Frage, wie viel Zeit sie für Bücher haben und wie man Aufmerksamkeit für Bücher schafft. Da spielt die eigentliche Diskussion.

 

JB: Nach zehn Jahren in Berlin steht in wenigen Wochen der Umzug in ein eigenes Verlagsgebäude an. Ist das ein großer Einschnitt für den Verlag?

JL: Der große Einschnitt war der Weg von Frankfurt nach Berlin. Das war eine richtige und gute Entscheidung, weil sich Möglichkeiten eröffnet haben, sich verlegerisch neu zu positionieren. Jetzt können wir ein eigenes Gebäude beziehen, was uns wirtschaftlich langfristig absichert. Nicht unwichtig, wenn man die Immobilienpreise in Berlin kennt. Gleichzeitig ist es ein Haus für den Verlag und eine Heimat für Autoren, langfristig. Das ist sehr schön, darauf freuen wir uns.

 

JB: Herr Landgrebe, ich danke Ihnen für das Gespräch.