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Juergen Boos und Andreas Rötzer

© Frankfurter Buchmesse

Verlegen ist eine Form von Wahrhaftigkeit, sagt Andreas Rötzer, seit 2004 Verleger bei Matthes & Seitz Berlin, und ein unabhängiger Verlag habe nur eine Chance, wenn er Vertrauen bildet in die Qualität seiner Bücher. Im Gespräch mit dem Direktor der Frankfurter Buchmesse Juergen Boos erzählt er, wie ihm das immer wieder gelingt.

JB: Es gibt ein Interview, in dem Sie gesagt haben, als Verleger hänge man am Tropf des Marktes. Wie war das gemeint?

AR: Damit meinte ich, dass wir kein Zuschussverlag sind, sondern uns auf dem Markt behaupten und über den Verkauf finanzieren müssen. Alle Erfolge, die wir haben, werden in neue Bücher investiert. Ich habe mir auch immer die Freiheit genommen, Bücher zu machen, die sich nicht rentieren, die aber programmatisch sehr wichtig sind. Aber wenn man die Erwartungen ein bisschen anpasst, kann man auch ganz gut wirtschaftlich arbeiten.

JB: Kann man den Markt selbst gestalten, sich einen Markt schaffen?

AR: Uns ist es mit den „Naturkunden“ gelungen. Man muss das Glück haben, dass man den Zeitgeist trifft, ohne sich ihm anzudienen. Im Idealfall ergibt sich eine Innovation, die sich auf dem Markt durchsetzen kann. Mit der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ ist es uns noch einmal gelungen, auch da haben wir uns einen Markt geschaffen.

JB: Bei anderen Verlagen sehe ich, dass sie zum Teil mäzenatisch unterstützt werden, aber genau das wollen Sie ja nicht.

AR: Bei den Naturkunden, die enorme Produktionskosten haben, hatten wir dankenswerterweise eine großzügige Anschubfinanzierung, um die Last des Risikos ein wenig zu minimieren und diese Reihe überhaupt erst zu ermöglichen. Aber ich glaube, dass die Qualität der Bücher steigt, wenn sie sich auf dem Markt bewähren muss. Das ist natürlich mit hohem Risiko und einer enormen Anstrengung verbunden, und das permanent. Aber die Gefahr oder Verlockung, das Verlegen als l’art pour l’art zu betreiben, wäre sonst zu groß. Ich sehe das Verlegen immer auch als einen politischen Akt, weil man sich in eine Öffentlichkeit hinein äußert. Wir wollen und müssen ein Publikum erreichen für unsere Inhalte, und wir wollen Bücher machen, die eine gesellschaftliche Relevanz haben.

JB: Sie sind promovierter Philosoph und haben doch als Buchhalter im Verlag angefangen …

AR: Für den Beruf hilft mir mehr, dass ich auch psychiatrischer Krankenpfleger gelernt habe ... [lacht]. Das Philosophiestudium hat mir für die Arbeit eigentlich nicht geholfen, aber die Buchhaltung sehr. Als Axel Matthes 1999 einen Buchhalter gesucht hatte, habe ich mich beworben, weil ich in dem Verlag arbeiten wollte. Ich konnte die damalige Buchhalterin erstaunlicherweise erfolgreich von meinen nicht vorhandenen buchhalterischen Fähigkeiten überzeugen, sodass sie mich einstellte. Sie ging dann in Rente und ich wurde ihr Nachfolger.

JB: Wo kam der Wunsch her, in den Verlag zu gehen?

AR: Das begann im Studium mit der Faszination durch die Literatur und die Philosophie. Dann habe ich lange Jahre im Antiquariat gearbeitet, was sehr wichtig war, um zu begreifen, wann ein Buch Qualität aufweist und was ein Buch wertvoll macht. Wenn von 100 Büchern aus einem Nachlass nur 5 oder 10 den Test für den Antiquar bestehen, dann merkt man, wieviel Schrott produziert wird. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist es mein Ziel, Bücher zu machen, die in 30, 40 Jahren noch einen Wert haben, einen Antiquariatswert. Das ist meine Richtlinie. Ich bin wahrscheinlich eher ein verkappter Antiquar als ein Verleger.

JB: Das Wichtige ist, dass das Buch bleibt?

AR: Ja, dass man kein Konsumgut schafft, also nichts, was man verbraucht und ersetzt, sondern etwas Bleibendes. Das hört sich jetzt sehr groß an, aber ein Buch ist für mich eben nichts, was verbraucht wird, sondern es kann immer wieder in den Markt eingespeist werden, weil es extrem haltbar ist, sowohl physisch als auch inhaltlich. Und das möchte ich mit den Büchern von Matthes & Seitz Berlin erreichen.

JB: Wir haben schon zwei Bereiche angesprochen, die Sie sehr erfolgreich besetzt haben – ist ein neues großes Thema in Planung?

AR: Wir werden in den nächsten Jahren Bücher zum Thema China machen, das ist sicherlich ein neues Thema, das uns gerade sehr beschäftigt.

JB: Gesellschaftspolitik zu China oder …?

AR: Literatur aus China und auch Titel über China und über den gesamten asiatischen Raum, was natürlich ein Riesengebiet ist, das ich selbst erst noch erschließen muss.

JB: Ist es nicht sehr schwer, jemanden zu finden, der da die Expertise hat?

AR: Ich war 2012 zum ersten Mal in Taiwan und da ist mir deutlich geworden, dass Asien nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell und gesellschaftlich ein so wichtiger Erdteil ist, der hier bei uns gar nicht adäquat repräsentiert ist. Aber es interessiert mich persönlich sehr und das bildet sich dann auch im Verlagsprogramm ab. Die Expertise ist extrem schwierig zu bekommen, da ist es notwendig, ein internationales Netz an Leuten zu haben, die sich auskennen und einen beraten.

JB: Wie kommen Sie an die Themen und Autor*innen?

AR: Ich versuche seit acht Jahren selbst einmal jährlich nach Asien zu fahren und Autoren, Verleger und Agenten zu treffen. Das ist mir bis auf letztes Jahr auch gelungen, immer wieder auch dank der Frankfurter Buchmesse. Man braucht vor allem die passionierten Übersetzer, die einem Tipps geben. Auf die Sinologen kann man sich da nicht unbedingt verlassen, weil sie einen anderen Blick haben und unsere Bedürfnisse nicht kennen.

JB: Ich würde gerne noch ein bisschen über Ihr Verhältnis zu Ihren Autor*innen sprechen. Entdecken Sie Autor*innen, weil Sie Themen besetzen, oder kommen erst die Menschen zu Ihnen und dann die Themen? Ist der Verlag der Initiator oder das Buch?

AR: Das ist eine Wechselwirkung. Man sendet über das Verlagsprogramm und die Bücher, die man verlegt, eine Botschaft, vielleicht nicht einmal bewusst, und dann kommen die Themen und auch die Autoren. Ich habe mich oft gefragt, wie es sein kann, dass plötzlich Bücher angeboten werden, für die ich mich brennend interessiere. Das bildet auch das Verlagsprogramm ab.

JB: Da hat der Verlag eher eine Leuchtturmfunktion oder gleicht einem Leuchtfeuer.

AR: Ja, viele Bücher entstehen aus Gesprächen mit Autoren oder Übersetzern, oder man entdeckt mit ihnen gemeinsam neue Autoren.

JB: Aber Sie verlegen nicht nur junge Autoren, ich denke da an Joshua Groß oder Jakob Nolte, sondern auch solche, die vorher schon publiziert haben, wie Anne Weber, die jetzt den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Es fällt auf, dass Ihr Verlag die Kraft hat, jemanden neu ins Gespräch zu bringen und wieder aktuell zu machen. Bei Joshua Groß war es ähnlich. Auch er hatte schon tätig publiziert, dann kam er zu Ihnen und auf einmal passiert etwas.

AR: Es schön, wenn das eine Regel wäre, aber es ist halt doch jedes Mal wieder ein Wagnis. Aber wenn es gelingt, dann hängt es vielleicht mit der Glaubwürdigkeit zusammen, die wir inzwischen haben, und mit dem Kontext der anderen Autor*innen. Die Mischung ist wichtig. Wir haben Klassiker, neue Autor*innen, etablierte Autor*innen – der eine beleuchtet den anderen sozusagen und setzt ihn in Szene. Das führt dazu, dass man Autoren, die nicht so bekannt waren, noch einmal entdecken kann. 

JB: Gibt es in Ihrem Programm viele Übersetzungen?

AR: Ich würde sagen die Hälfte, inzwischen ein bisschen weniger. Wir machen 100, 120 Bücher pro Jahr und davon sind etwa 40 bis 50 Übersetzungen. Es ist eine ziemliche Menge, ja.

JB: Bei den Anglophonen sind Übersetzungen ziemlich verpönt, sie kosten viel Geld und wenige wollen sie kaufen. Das ist in Deutschland ganz anders, insgesamt sind in der Belletristik ca. 30 Prozent Übersetzungen.

AR: Wobei das keine Einbahnstraße ist, wir verkaufen auch relativ viel ins Ausland. Gerade Philosophie aber auch Literatur, und das funktioniert inzwischen ganz gut. Aber auch das dank der internationalen Vernetzung und nicht zuletzt wegen der Frankfurter Buchmesse.

JB: Ich sage das der Frankfurter Buchmesse, die wird sich freuen, das zu hören. Wie hat sich denn Anne Weber verkauft im Ausland?

AR: Wir sind jetzt, Ende 2020, bei 10 Lizenzen.

JB: Dieser Titel wird auch nicht einfach sein zu übersetzen.

AR: Es ist sogar ziemlich schwierig, die Vielschichtigkeit abzubilden, da geht schnell etwas verloren. Das ist eine große Herausforderung an die Übersetzer. Aber es geht gut weiter, wir werden es in noch mehr Sprachen verkaufen.

JB: Um noch einmal auf das Besondere von Matthes & Seitz Berlin zurückzukommen: Der Verlag ist in der Öffentlichkeit sehr aktiv, veranstaltet jährlich ein Sommerfest. Dieser Community-Gedanke ist doch inzwischen ein Teil der Verlagskultur geworden, oder?

AR: Ja. Als ich den Verlag übernommen hatte, kam Christian Thanhäuser, ein österreichischer Verleger und begnadeter Holzschneider und Federzeichner nach Berlin mit einem selbstgebackenen Brot, einem riesigen Laib Speck und einer Kiste Wein und sagte, jetzt laden wir alle Leute ein, die wir in Berlin kennen. Und das war die Kernzelle des Sommerfestes.

JB: Wie schaffen Sie es als unabhängiger Verlag, sich gegen die Konzerne zu behaupten, was den Einkauf von Titeln aber auch was den Buchhandel angeht. Hat sich das im Lauf der Zeit verändert?

AR: Ich habe sehr geschätzte Kollegen in den großen Verlagen, Regina Kammerer zum Beispiel oder Jonathan Beck, das sind wirklich großartige Kollegen, mit denen ich mich auch austausche. Daran zeigt sich, dass die Verlagsbranche keine Industrie ist, in der das übliche Hauen und Stechen herrscht, sondern es gibt auch eine verlagsübergreifende sehr angenehme Form von Kooperation. Außerdem haben wir unseren Vertrieb in den letzten 10, 15 Jahren stark entwickelt. Es gibt immer mehr kleine, partisanenartig arbeitende Buchhandlungen, die unsere Bücher verkaufen. Wir haben nie mit den Ketten gearbeitet, die Filialisten haben uns bis heute nicht akzeptiert. Unsere Bank, das sind die unabhängigen Buchhändler mit ihren charaktervollen Sortimenten, auf die können wir uns verlassen.

JB: Welche Rolle spielt das Feuilleton für Euch?

AR: Das spielt eine große Rolle, weil es Autoren anzieht. Und es dient dazu, dass wir darüber unsere Themen stärker in die Gesellschaft einspielen können.

JB: Und wie erreicht ihr Eure Leser direkt, was zeichnet Euch aus?

AR: Eine Richtlinie, die der Verlag nicht verlieren darf, ist, dass wir eine Form von Wahrhaftigkeit vertreten. Ein kleiner Verlag hat nur eine Chance, wenn er Vertrauen bildet, Vertrauen in die Qualität, und das haben wir geschafft in den letzten Jahren.

JB: Herr Rötzer, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Frankfurt Magazine April 2021

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