"Wir dürfen mit der Erinnerungskultur nicht nachlassen."
Annette Hess wird gemeinsam mit sieben weiteren Autorinnen und Autoren zum 32. Salone Internazionale del Libro (9.-13. Mai) nach Turin reisen, um ihren Roman "Deutsches Haus" vorzustellen, dessen Rechte bereits in über 20 Länder verkauft wurden. Im Interview spricht sie über die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, den Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und über die Wirkung ihres Buches im Ausland.
Beim Salone Internazionale del Libro di Torino in Italien werden Sie Ihren neuen Roman "Deutsches Haus" vorstellen. Ist es für Sie etwas anderes, das Buch im Ausland zu präsentieren als in Deutschland?
Für mich ist es eine sehr inspirierende Erfahrung, die Wirkung meines Buches im Ausland zu erleben. Ich war jetzt zum Beispiel in Spanien, wo intensive Gespräche entstanden sind über die Vergangenheit Spaniens, insbesondere über die Franco-Ära. Hier scheint vieles unaufgearbeitet, unausgesprochen, ungelöst. Es ist natürlich großartig, wenn ein Buch solche Gespräche auslöst.
Eva, die Protagonistin Ihres Romans, dolmetscht Zeugenaussagen ehemaliger polnischer KZ-Häftlinge während der Frankfurter Auschwitzprozesse 1963-1965. Sie wird zur Übersetzerin ihrer eigenen Geschichte. Was hat Sie an Eva als Figur besonders fasziniert?
Ich habe mir vor ein paar Jahren die 400 Stunden Aufzeichnungen des Auschwitz-Prozesses angehört – zunächst aus reinem Interesse. Dabei hat mich eine polnische Dolmetscherin tief beeindruckt, die mit ihrer ruhigen, präzisen und verlässlichen Art den Zeugen Sicherheit gegeben hat. Diese Frau hat sehr dazu beigetragen, dass die Menschen es wagten, ihre schlimmen Erlebnisse im Angesicht der Täter noch einmal zu erzählen. Die zweite Inspiration für Eva war meine eigene Mutter, Jahrgang 1942, die in den 1960ern ebenso naiv und ahnungslos in die Zukunft geschaut hat: heiraten, Kinder kriegen, Haus bauen. Ich konnte das Thema Holocaust nur aus einer naiven Perspektive heraus erzählen. Ich will, dass Leserinnen und Leser es noch einmal wie neu erfahren, wozu wir Menschen fähig sind.
Sie erklären Geschichte durch Geschichten – auch weil uns diese durch das Schweigen der deutschen Nachkriegsgeneration fehlen?
Ich denke, dass die Entwicklung nach 1945 letztlich eine menschlich natürliche war: Die Deutschen mussten schweigen und verdrängen, sonst wären sie untergegangen. Sie mussten nach vorne schauen, um das Land wieder aufzubauen. Da hatten Fragen nach der Vergangenheit und Schuldgefühle keinen Platz. Besonders schwer war das für die Kriegskinder. Sie hatten alles miterlebt – und durften nicht darüber sprechen oder Fragen stellen. In den Familien werden daher bis heute immer wieder dieselben unverfänglichen (Helden-)Geschichten erzählt. Um an den Kern von Wahrheit zu kommen, muss man aber Fragen stellen. Das war eine sehr lange Zeit nicht erlaubt, geradezu ein Tabu.
Der Roman spielt im Gegensatz zur Fernsehserie Weissensee, für die Sie das Drehbuch geschrieben haben, im westlichen Teil des zerrissenen Nachkriegsdeutschlands. Sehen Sie hier Unterschiede in der Vergangenheitsbewältigung?
Es gab und gibt Unterschiede, was die Aufarbeitung angeht. Zum Beispiel war in der DDR der Besuch von Buchenwald Pflicht für die Schüler, in Westdeutschland nicht. Hier wurde wiederum Anfang der 1980er Jahre die Serie Holocaust gezeigt und führte zu einer neuen Debatte über die Verbrechen der Deutschen. Insgesamt bildete sich in Westdeutschland auch durch die 68er-Bewegung der gesellschaftliche Konsens, dass die Bevölkerung selbstverständlicher Weise durchsetzt war von ehemaligen Nationalsozialisten, vor allem auch in der Justiz. In der DDR wurde dafür meiner Meinung nach kein Bewusstsein geschaffen. Hier gab es in der öffentlichen Wahrnehmung nach 1945 keine Nazis mehr. Ob die unterschiedliche Aufarbeitung zu der heutigen Tendenz beigetragen hat, dass die neuen rechten Strömungen vor allem im Osten greifen? Das ist wohl zu einfach gedacht. Da sind die Gründe komplexer.
Die Rechte an Ihrem Roman wurden bereits in über 20 Länder verkauft, unter anderem auch nach Israel – wie erklären Sie sich das große Interesse? Was bedeutet das für Sie?
Ich bin ganz überwältigt von dem Erfolg, da ich damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Aber offensichtlich ist Evas Geschichte eine Universelle. Ihre Erkenntnis, dass die Historie ihres Landes untrennbar mit der Historie der eigenen Familie verbunden ist, ist allgemeingültig. Ich treffe mit meinem Buch anscheinend einen Nerv. Denn es gibt in jedem Land die dunklen Kapitel in der Vergangenheit (wenn auch nicht vergleichbar mit den Verbrechen der Deutschen). Und jeder, der heute lebt, ist durch seine Herkunft und Familie davon betroffen. Traumata überspringen Generationen, werden vererbt. Das weiß man inzwischen. Deshalb gibt es ein Bedürfnis nach Offenlegung und Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Denn nur das kann heilen.
Gab es Herausforderungen bei der Übersetzung dieses Romans in andere Sprachen?
Alle Übersetzer hatten mein Angebot, mich jederzeit bei Fragen zu kontaktieren. Sprachen faszinieren mich, die Herausforderung einer adäquaten Übersetzung kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Es kamen von den Übersetzern viele Fragen zu nationalen Eigenheiten, zu kulinarischen Gerichten, zum Dialekt. Mit der israelischen Übersetzerin hatte ich den intensivsten Kontakt. Zum Beispiel habe ich in meinem Buch vermieden, das Wort „Konzentrationslager“ zu benutzen. Das Wort hat im Deutschen einen so heftigen Impact, dass es jedes Mal aus dem Lesefluss reißen würde. Die israelische Übersetzerin empfand es aber als verharmlosend, es nur „Lager“ zu nennen. Dort heißt es nun „Konzentrationslager“.
Die Weigerung, sich mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen – sehen Sie gesellschaftspolitische Parallelen zur Gegenwart?
Meine Beobachtung ist, dass es in Deutschland heute keine Verdrängung, sondern eher eine aggressive Gegenbewegung zur Aufarbeitung gibt. Im Bundestag nannte ein Politiker der AfD die Zeit von 1933 bis 1945 – und damit die Massenvernichtung – einen „Vogelschiss“ in der Geschichte. In KZ-Gedenkstätten werden Hitlergrüße gezeigt. Da die Zeitzeugen wegsterben, ist es umso wichtiger, mit der Erinnerungskultur nicht nachzulassen; nicht müde zu werden, zu erzählen, wohin Alltagsrassismus gepaart mit Lebensfrust und Unaufgeklärtheit irgendwann führen kann. Ich glaube, Auschwitz ist jederzeit wieder möglich. Wir Menschen sind ja nicht besser geworden in den letzten 70 Jahren. Das war auch ein wichtiger Motor für die Arbeit an meinem Roman.
Vielen Dank für das Interview.
Das Interview wurde zuerst auf der Website des Börsenblatts publiziert:
Das Interview wurde im Newsletter der Frankfurter Buchmesse vorgestellt:
https://www.buchmesse.de/newsletter-anmeldung(Öffnet neues Fenster)