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Spannung

Der Herbst wird heiß – hier finden Sie packende Pageturner für kalte Tage und starke Nerven.

Portrait: Oyinkan Braithwaite

Nigerianische Femme fatale

Die eine Schwester mordet, die andere beseitigt die Spuren und kommentiert grimmig das Geschehen: Oyinkan Braithwaites Krimi ist ein witzig-bissiges, dabei mehr als nur schlicht-unterhaltsames Debüt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Oyinkan Braithwaite

© Studio 24

Oyinkan Braithwaites Buch ist in vielerlei Hinsicht besonders. Zum einen einfach deshalb, weil Geschichten aus Lagos hierzulande selten sind – und sie auch noch die nigerianische Mittelschicht karikiert: mit jeder Menge Macho- und beschränkten Mutti-Typen. Zudem ist dieses Debüt alles andere als ein klassischer Ermittlerkrimi, schon der Titel verrät die Täterin: „Meine Schwester, die Serienmörderin“. Hier werden Verbrechen nicht aufgeklärt, sondern vertuscht.
Die Täterin ist Ayoola, eine Sexbombe, die bevorzugt mit einem Messer meuchelt, mit dem Lieblingsstück ihres verstorbenen Vaters. Natürlich fließt dabei viel Blut, und ihre Schwester Korede muss der Sauerei mit Putzmitteln und Bleiche zu Leibe rücken.
Das nervt sie, funktioniert dennoch ebenso reibungslos wie die Entsorgung der Leichen in einem Fluss – bis Ayoola den Arzt becirct, in den sich die tüchtige Korede, eine Krankenschwester, verliebt hat. Dieses Mal droht der Schwesternkonflikt zu eskalieren: Die Tatortreinigerin will nicht mehr hinter der anderen aufräumen und nicht mehr das Aschenputtel geben, das zwar bestens organisiert ist, das aber niemand leiden kann, weil es mit dem Charme eines Feldwebels jeden wegbeißt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Meine Schwester, die Serienmörderin

Unrecht wird unter den Teppich gekehrt
Ein neues Gesicht, ein frischer Tonfall: In der englischsprachigen Welt sorgte dieses Buch für Furore. Die 32-jährige Autorin hat kreatives Schreiben und Jura in Kingston studiert, in einem nigerianischen Verlag sowie in einer Produktionsfirma gearbeitet und lebt heute als freie Autorin in Lagos. Ihr Debüt wurde für den Booker Prize sowie den Women's Prize nominiert und gewann den Los Angeles Times Prize für den besten Thriller. Eine Verfilmung ist in Vorbereitung.
Witzig und leicht erzählt ist ihr Werk erst einmal ein amüsantes Lesevergnügen, hat aber mehr in petto als eine unterhaltsame Oberfläche. Denn hier geht es nicht vor allem um die aktuell stattfinden Morde. Vielmehr wird mehr und mehr klar, dass der geheime Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, dass die Ursache für die letztlich unerschütterliche Schwesternsolidarität in der Familienvergangenheit liegt: in Unrecht, das niemals ans Tageslicht kam und niemals gesühnt wurde, das aber nachwirkt und die Schwestern fest im Griff hat.

Text: Sabine Schmidt

Oyinkan Braithwaite: Meine Schwester, die Serienmörderin
Übersetzt von Yasemin Dinçer.
Blumenbar, 240 Seiten, 20,- €

Buchempfehlung

Lewis Carrolls Geheimnis

Guillermo Martínez‘ Oxford-Krimi ist ein Highlight für Leserinnen und Leser, die sich für „Alice im Wunderland“ interessieren – und für den Autor dieser fantastischen Geschichte.

Ähnlich exzentrisch wie die Teegesellschaft in „Alice im Wunderland“ erscheint in diesem Kriminalroman die Lewis Carroll-Bruderschaft. Natürlich ist sie in Oxford aktiv, an dem Ort, an dem Lewis Carroll seiner Arbeit als Mathematiker nachging – und seine Freizeit mit Kindern verbrachte. Mit Alice Liddell zum Beispiel: Sie inspirierte ihn Anfang der 1860er Jahre zu der Geschichte, die ihn bald berühmt machen sollte. Aber auch mit anderen Kindern war er zusammen, gern mit fünf oder sechs Jahre alten Mädchen, die er – kaum bekleidet oder nackt – lasziv in Szene setzte und mit Hilfe der neuen Kunst der Fotografie verewigte.
Um diese Bilder gibt es lange schon Kontroversen. Lewis Carroll sei ein Pädophiler gewesen, der seine Neigungen über die Bilder auslebte, vielleicht sogar noch weiter ging, sagen die einen. Seine Fans sprechen dagegen von Kunst, die man nicht spießig-moralisch beurteilen dürfe.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Der Fall Alice im Wunderland

Was darf Kunst?
Der Mathematiker Guillermo Martínez greift diese Kontroverse auf: in seinem zweiten Krimi um den Logik-Professor Arthur Seldom und einen Doktoranden aus Argentinien. Dieses Mal geschehen Morde im Umfeld der fiktiven Lewis Carroll-Bruderschaft, die mit lebenden Exzentrikern und realen ruhmsüchtigen Akademiker*innen natürlich nichts zu tun hat – auch wenn der argentinische Krimiautor zwei Jahre seiner Doktorandenzeit in Oxford verbrachte.
„Der Fall Alice im Wunderland“ ist ein unaufgeregtes, nahezu actionfreies Buch, das auf leise Art spannend ist. Martínez bezieht in ihm nicht Stellung: Er spinnt seine Geschichte um die Kinder-Photographien Lewis Carrolls, gibt aber nicht preis, zu welcher Position er selbst tendiert. Das Besondere an diesem Rätsel-Krimi ist, dass er einen Denkraum öffnet: um das, was Pädophilie bedeutet oder bedeuten kann; um die Frage, was Kunst darf bzw. welche Grenzen ihr gesetzt werden sollten; und um die Frage, welche Form von Aufmerksamkeit Kindern gut tut und welche Grenzen auf keinen Fall überschritten werden sollten.

Text: Sabine Schmidt

Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland
Übersetzt von Angelika Ammar.
Eichborn, 320 Seiten, 16,- €

3 Lesetipps

Late Show

Michael Connelly: Late Show
Übersetzt von Sepp Leeb.
Kampa Verlag, 432 Seiten, 19,90 €

Michael Connelly: Late Show
Übersetzt von Sepp Leeb.
Kampa Verlag, 432 Seiten, 19,90 €

Strafversetzt, ausgerechnet in die anstrengende Nachtschicht in Los Angeles. Es sind aber nicht die Nachtstunden, die Streifenpolizistin Renée Ballard zu schaffen machen. Vor allem fällt es ihr schwer, dass sie ihre Fälle an die Tag-Kollegen abgeben muss, die sie dann aufklären sollen – und so verbeißt sie sich in die Verbrechen, von denen sie glaubt, dass die anderen nicht wirklich an ihnen interessiert sind. „Late Show“ von Bestsellerautor Michael Connelly ist der Auftakt einer neuen Reihe und ein klassischer Polizeithriller, der vor allem von der Hauptfigur lebt: von ihrer Unbestechlichkeit, von der Aura der einsamen, toughen Heldin.

Ragnar Jónasson: Insel

Ragnar Jónasson: Insel
Übersetzt von Kristian Lutze.
btb, 384 Seiten, 15,- €

Ragnar Jónasson: Insel
Übersetzt von Kristian Lutze.
btb, 384 Seiten, 15,- €

Abgelegener geht es kaum: Vier Menschen auf einer Insel, auf der nur ein paar Schafe leben. Eine Insel, die nicht einmal einen Schiffsanleger hat, dafür überwältigende Stille und Natur. Dort geschieht der zweite Mord dieses Krimis – zehn Jahre nach dem ersten in einem abgelegenen Sommerhäuschen, auch dort gab es nichts und niemanden, nur eine heiße Quelle in der Nähe. Island mit seinen stillen, faszinierenden Landschaften spielt eine Hauptrolle in diesem zweiten Buch um Kommissarin Hulda Hermannsdóttir, in dem nicht nur die Verdächtigen, sondern auch die Ermittlerin darum kämpfen muss, mit dem Leben zurechtzukommen.

Sara Paretsky: Altlasten

Sara Paretsky: Altlasten
Übersetzt von Laudan & Szelinski.
Ariadne, 544 Seiten, 24,- €

Sara Paretsky: Altlasten
Übersetzt von Laudan & Szelinski.
Ariadne, 544 Seiten, 24,- €

Bereits in den 1980ern schickte Sara Paretsky eine der ersten starken Frauen nach Miss Marple ins Krimi-Rennen: V.I. Warshawski, Privatdetektivin in Chicago. Besondere Merkmale: trockener bis bissiger Humor, ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstironie. Im neuen Fall muss sie ihre Komfortzone Chicago verlassen und in Kansas ermitteln. Zentral ist das Thema Rassismus, dazu kommen Geheimnisse einer Kleinstadt, die unter den Teppich gekehrt werden sollen, aber natürlich wirbelt die Detektivin ordentlich Staub auf. Auch nach fast 40 Jahren ist Paretsky immer noch besonders: Sie bietet nicht nur einen interessanten, komplexen Fall, auch ihr Witz bleibt eine Klasse für sich.

Im Gespräch: Zoë Beck

Wenn Algorithmen das Leben steuern

Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft: Frankfurt ist eine Megacity, in der die Menschen komplett umsorgt, aber auch komplett kontrolliert werden. Im beklemmenden Zukunftsthriller „Paradise City“ beleuchtet Zoë Beck die Schattenseiten dieser schönen neuen Welt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Zoe Beck

© Victoria Tomaschko Suhrkamp Verlag

In Ihrem Thriller hat eine Pandemie Deutschland tiefgreifend verändert – diese Geschichte haben Sie entwickelt, bevor Covid-19 überhaupt zu ahnen war. Wie sind Sie darauf gekommen?
Zoë Beck: Mit dieser Pandemie habe ich tatsächlich nicht gerechnet, auch wenn die Expertinnen und Experten, mit denen ich zu Recherchezwecken gesprochen hatte, immer wieder meinten, dass es an der Zeit für einen neuen Virusausbruch wäre. Ich dachte eher an eine Masernepidemie, multiresistente Keime, aber durchaus auch an Grippeviren.

Im Mittelpunkt Ihres Thrillers steht eine Journalistin, die für eine der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenagenturen arbeitet. Was ist das für eine Zukunft, von der Sie erzählen?
Ich wollte eine Welt entwerfen, in der sich die Umweltbedingungen verändert haben, dadurch unter anderem auch Infrastruktur, Wohnen, Gesundheit, Ernährung, Reiseverhalten. Die Menschheit ist um 40 bis 50 Prozent geschrumpft im Vergleich zu heute. Vor allem aber ging es mir darum zu zeigen, was passiert, wenn uns Fakten irgendwann vollkommen egal sind und eine unabhängige Berichterstattung keine Rolle mehr spielt. Wenn die Wissenschaft intransparent forscht und sich niemand dafür interessiert.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Paradise City

Zoë Beck: Paradise City
Suhrkamp, 280 Seiten, 16,- €

Ein zentrales Moment Ihres Buchs ist eine Gesundheits-App. Warum sehen Sie dieses Angebot im Vergleich etwa zur Corona-Warn-App kritisch?
Die Corona-Warn-App übermittelt keine personenbezogenen Daten, und alles ist freiwillig. Die Gesundheits-App in meiner Geschichte kontrolliert den Körper, gibt Handlungsanweisungen, leitet Daten weiter, die dazu führen, dass man Medikamente geliefert bekommt oder einen Arzttermin wahrnehmen muss.

Es hat doch auch Vorteile, wenn man sich um seine Gesundheit keine Sorgen mehr machen muss …
Aber es stellen sich ethische Fragen. Zum Beispiel, warum man nicht einfach mal schlappmachen darf, krank sein, selbst entscheiden, wie man mit einer Krankheit umgeht, sofern man sonst niemanden gefährdet. Oder die Frage, wo die Grenze zum nicht mehr lebenswerten Leben ist.

Interview: Sabine Schmidt

 

Im Fokus: Nervenkitzel querbeet

Schräg bis entschieden politisch

Spannung gehört unbedingt dazu, ebenso kennzeichnen kriminelle Machenschaften Krimis und Thriller. Klassische Polizei- und Ermittlerfälle sind ungebrochen beliebt, Autor*innen wollen oft aber auch andere Akzente setzen – und meistern ihren Anspruch. Eine Stichprobe.

Cool, dicht, noir – Frank Göhre hat schon vor Jahren Maßstäbe für den deutschsprachigen Krimi gesetzt und tut es nach zehnjähriger Pause erneut mit „Verdammte Liebe Amsterdam“: Ein Toter auf einer Autobahnraststätte; eine 15-Jährige, die durchgebrannt ist; Gangs und Loverboys in der niederländischen Hauptstadt. Eine knappe Sprache, die sich auf das Wesentliche konzentriert – und ein Krimi, der eindrücklich dreckige Seiten der Gegenwart zeigt.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Verdammte Liebe Amsterdam

Frank Göhre: Verdammte Liebe Amsterdam
CulturBooks, 168 Seiten, 15,- €

Zurück in die Vergangenheit, ins Hannover der 1920er Jahre, führt dagegen Dirk Kurbjuweit. In seinem historischen Kriminalroman „Haarmann“ erinnert der „Spiegel“-Autor an die Verbrechen des Serienmörders Fritz Haarmann. Dabei bringt Kurbjuweit die Weimarer Republik nahe: die junge Demokratie, der noch der Erste Weltkrieg tief in den Knochen und in der Seele steckte.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Haarmann

Dirk Kurbjuweit: Haarmann
Penguin, 320 Seiten, 22,- €

Einspruch gegen Rassismus
Auf die andere Seite des Atlantiks führt uns Attica Locke: Die US-Amerikanerin setzt sich in ihren Krimis mit Rassismus auseinander. „Heaven, My Home“ schrieb sie bereits, bevor Donald Trump Präsident wurde. Jetzt ist ihr Buch in deutscher Übersetzung erschienen – und trifft eines der großen Themen, von denen die USA aktuell umgetrieben werden.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Heaven, my home

Attica Locke: Heaven, My Home
Übersetzt von Susanna Mende. Polar, 338 Seiten, 22,- €

Mit deutscher Politik befasst sich Horst Eckert und setzt interessantes Personal ein: Im Thriller „Im Namen der Lüge“ ist wieder sein Düsseldorfer Kommissar Vincent Veih dabei, Sohn einer RAF-Terroristin. Neu ist Melia Khalid, Protagonistin mit somalischen Wurzeln und Referatsleiterin beim Inlandsgeheimdienst. Ihr erster Fall dreht sich um rechte und linke Gewalt, ebenso um den Verfassungsschutz und die Frage, auf welchem Auge er blind ist.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Im Namen der Lüge

Horst Eckert: Im Namen der Lüge
Heyne, 576 Seiten, 12,99 €

Fokussiert auf einen besonderen Aspekt ist Emma Viskic: „No Sound – Die Sprache der Opfer“ ist der zweite Band um einen gehörlosen Privatermittler. Die australische Autorin konzentriert sich nicht nur auf die Aufklärung von Verbrechen, vielmehr auch auf das Handicap des Helden und damit auf Sprache sowie Verständigung.

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung No Sound

Emma Viskic: No Sound – Die Sprache der Opfer
Übersetzt von Ulrike Brauns. Piper, 336 Seiten, 15,- €

Es geht aber auch ganz anders: mit „Leichen, die auf Kühe starren“, dem jüngsten Alpenkrimi von Tatjana Kruse. Witzig, schräg, verspielt zieht die beliebt-berüchtigte „Königin der Krimödie“ jeden und alles durch den Kakao: Fans von Schlagerstar Hansi Hinterseer ebenso wie das mondäne Kitzbühel – eine weitere Variante des weit gefächerten Spannungsgenres.

Text: Sabine Schmidt

Frankfurter Buchmesse 2020 Themenwelten Spannung Leichen, die auf Kühe starren

Tatjana Kruse: Leichen, die auf Kühe starren
Ein rabenschwarzer Alpenkrimi. Haymon, 288 Seiten, 12,95 €