Im Interview: Karin Schmidt-Friderichs und Slava Svitova
Wie verändert sich Führung in der Buchbranche – und welche Perspektiven bringen Frauen in Entscheidungspositionen ein? Dieses Interview rückt zwei Stimmen in den Mittelpunkt, die aus verschiedenen Kontexten kommen, aber ähnliche Fragen teilen: Karin Schmidt-Friderichs, deutsche Verlegerin und ehemalige Vorsteherin des Börsenvereins, und Slava Svitova, ukrainische Mitgründerin des feministischen Independent-Verlags Creative Women Publishing. Im Interview sprechen sie über weibliche Führung, über Unabhängigkeit als Stärke und Bürde, über Buchgestaltung als Haltung sowie über internationale Zusammenarbeit als Akt der Solidarität.
© Creative Women Publishing und Gaby Gerster
Sie sind beide Frauen in Leitungspositionen in der Buchbranche – gibt es eine weibliche Art, einen Verlag zu führen?
Karin Schmidt-Friderichs: Ich glaube nicht, dass es spezifisch weibliches Führen gibt – jede*r entwickelt eine eigene Art zu führen. Was ich aber erlebt habe: die einzige Frau im Raum zu sein und dann auch noch an der Spitze – das fällt einigen Herren sehr schwer …
Slava Svitova: Ich empfinde, dass Frauen flexibel und anpassungsfähig sind, intuitive Trends spüren, gern zusammenarbeiten und Schönheit und Details sehr schätzen.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn Erfahrungen gemacht, bei denen Ihre Rolle als Frau besonders sichtbar wurde – positiv oder negativ?
Karin Schmidt-Friderichs: Ich habe viel Solidarität mit anderen Frauen erlebt. Ich hatte das Glück, immer eine Stellvertreter*in zu haben – sehr gute Sparringspartner*innen, die ich aktiv dazu aufgefordert habe, mich auch zu kritisieren, mich notfalls mal zu bremsen. Daraus sind belastbare Beziehungen und Freundschaften entstanden, die mich über die jeweilige Funktion hinaus bereichert haben und für die ich sehr dankbar bin.
Slava Svitova: Für Frauen ist es schwerer, Vertrauen und Respekt zu gewinnen. Wir müssen doppelt so viel leisten, um zu beweisen, dass unser Schiff nicht untergeht, sondern wir fest ankern.
Denken Sie, dass sich die Verlagsbranche im Hinblick auf Diversität und Geschlechtergerechtigkeit verändert hat?
Karin Schmidt-Friderichs: Ja, ich erlebe mehr Frauen selbstverständlich in Führungspositionen und wünsche mir, dass dieses Thema irgendwann gar keines mehr sein muss.
Slava Svitova: Definitiv. In der Ukraine gründen und leiten viele Frauen Verlage. Bei einem Programm für Verleger*innen aus der Region waren von 14 Teilnehmenden nur drei Männer. Frauen nehmen Raum ein, gewinnen Expertise und bringen weibliche Perspektiven stärker in die Branche.
Welche Freiheiten, aber auch Herausforderungen bringt es mit sich, unabhängig zu sein?
Karin Schmidt-Friderichs: Als unabhängige Verlegerin darf ich alles entscheiden – vom Programm bis zum Budget. Manchmal bedeutet das auch eine gewisse Einsamkeit an der Spitze. Vielleicht hat mir deshalb die Gremienarbeit im Börsenverein des Deutschen Buchhandels so gefallen: in so einer großen Struktur mit vielen Gremien und Mit-Entscheider*innen dauerte manches etwas länger, die Diskussionen waren aber auch bereichernd und korrigierend. Am Ende liebe ich die Unabhängigkeit und trage die Verantwortung aber sehr gern.
Slava Svitova: Unabhängigkeit heißt, allein verantwortlich zu sein – niemanden beschuldigen zu können. Ich hatte nie vor, die Leitung eines Verlags zu übernehmen, aber ich musste diese Rolle 2022 übernehmen, als unser Team durch den Krieg über die ganze Welt verstreut war. Ich musste eine Entscheidung treffen: entweder zurücktreten und zusehen, wie alles, was wir aufgebaut hatten, zusammenbrach, oder so fest wie möglich durchhalten und mein Bestes tun, um es zu bewahren, zu pflegen und zum Wachsen zu bringen – bisher funktioniert es.
Wie gehen Sie mit dem Druck von Markttrends und Verkaufszahlen um?
Karin Schmidt-Friderichs: Ich tanke Optimismus und Mut in der Natur. Wenn möglich, starte ich mit einem flotten Gang durch den nahegelegenen Wald in den Tag. Auch der Austausch mit anderen Indies hilft – und die intensive Vernetzung mit unserer Zielgruppe. Wenn man weiß, wie die Kund*innen „ticken“ und wie ihre Lebensrealität gerade aussieht, hilft das sehr.
Slava Svitova: Ich beschäftige mich nicht damit. Wir haben unseren Verlag ohne Kapital gegründet, unser Publikum hat uns getragen. Im Laufe von fünf Jahren sind wir stark gewachsen. Unser Ziel ist es, Bücher zu schaffen, die Frauen stärken, und ein nachhaltiges Unternehmen aufzubauen. Unser Maßstab ist nicht die Konkurrenz, sondern wir vergleichen uns nur mit dem, was wir gestern, letzten Monat oder letztes Jahr waren. Und wir lassen uns von unserer eigenen Geschichte inspirieren.
Im Jahr 2024 wurde Creative Women Publishing laut der Shortlist von Chytomo zu einem der fünf wichtigsten Trendsetter im ukrainischen Verlagswesen gekürt – wir haben sehr hart gearbeitet, um diesen Punkt zu erreichen. Wir schätzen die Kunst der kleinen Schritte und legen mehr Wert auf Zusammenarbeit als auf harten Wettbewerb.
Was ist Ihnen wichtiger: programmatische Kohärenz oder Offenheit für Experimente?
Karin Schmidt-Friderichs: Eine Marke braucht beides: eine gewisse Kohärenz und immer wieder Experimente. Unsere Kundschaft „liebt“ uns nur, wenn wir sie auch überraschen – ein Balanceakt, der uns lebendig hält und offenbleiben lässt.
Slava Svitova: Auch für uns sind beide gleich wichtig. In einem kriegsgeprägten Umfeld ist Planung nur auf kurze Sicht möglich. Flexibilität ist unsere neue Superkraft, eine Überlebensfähigkeit geworden – deshalb experimentieren wir ständig, sei es bei Büchern, Strategien oder sogar Farben.
Gibt es Beispiele, bei denen das Design eines Buches maßgeblich zum Erfolg beigetragen hat?
Karin Schmidt-Friderichs: Bei uns sind Gestaltung und Ausstattung der Bücher ganz wesentlicher Bestandteil der Marke. Fast jedes Buch ist ein Individuum, teils in Materialien gebunden, die ursprünglich gar nicht für die Buchherstellung gedacht sind. Gerade haben wir den Einband eines Buches aus der ökologischen Weiterentwicklung des alten Führerscheinpapieres gefertigt. Das lässt sich prima bedrucken, ist sehr abriebfest und würde – wie der alte Führerschein – sogar einen Waschgang überleben. Es fühlt sich besonders an und ist extrem robust – solche Experimente mögen unsere Kund*innen.
Slava Svitova: Ja – unsere Neuauflage von Der Erste Kranz, einem feministischen Almanach von 1887. Das Buch war vor 137 Jahren (!!!) von der ersten ukrainischen Feministin Natalia Kobrynska zusammen mit der ukrainischen Schriftstellerin, Ethnografin und Bürgerrechtlerin (und Mutter von Lesia Ukrainka) Olena Pchilka zusammengestellt worden.
Unser Team hat es 2025 neu herausgebracht und die Veröffentlichung dem 140-jährigen Jubiläum der ukrainischen Frauenbewegung gewidmet. Unsere Art Directorin Halyna Verheles hat bei der Gestaltung des Buches hervorragende Arbeit geleistet. Der ursprüngliche schlichte rötliche Einband wurde in einen himmelblauen Einband verwandelt; wir haben die ursprüngliche Beschriftung beibehalten, eine Stofftextur hinzugefügt, um die Bedeutung der Neuauflage zu unterstreichen, und eine Vintage-Postkarte als Vorsatzblatt eingefügt. Der Buchrücken ziert ein Muster, das von den Stickereien der Familie von Olena Pchilka inspiriert ist. Das Ergebnis ist eine elegante und auffällige Ausgabe.
Wir verkaufen derzeit die dritte Auflage – und für ein Buch aus dem 19. Jahrhundert im Jahr 2025 ist das ein toller Erfolg.
Wie wichtig sind Nachhaltigkeit und Materialität beim Buchdesign?
Karin Schmidt-Friderichs: Nachhaltigkeit ist Selbstverpflichtung. Dennoch gönnen wir uns auch mal eine folienveredelte Buchmessen-Einladungskarte, wenn wir etwas Funkeln in die ansonsten von Krisen und Kriegen erschütterte Welt bringen wollen. Materialität und Haptik sind essenziell – man sieht auch mit den Händen.
Slava Svitova: Nachhaltigkeit ist für uns fundamental. Wir nutzen ökologische Materialien, keine Plastikverpackungen, und gestalten Bücher so, dass sie langlebig sind.
Worin unterscheiden sich Designverständnisse international?
Karin Schmidt-Friderichs: Es gibt nationale Designtraditionen, aber globale Vernetzung lässt Trends überall erscheinen.
Slava Svitova: Der deutschsprachige Raum wirkt oft präzise, klar, funktional – das Design kommuniziert durch Struktur und Minimalismus. Die Ukraine wirkt emotionaler und symbolischer. Beide Ansätze sind wertvoll; sie spiegeln lediglich unterschiedliche kulturelle Sicht- und Empfindungsweisen wider. Ich liebe es, wenn diese beiden Ansätze aufeinandertreffen – Vernunft und Gefühl im Gleichgewicht.
Welche Rolle spielt internationale Zusammenarbeit – besonders in Zeiten politischer Spannungen?
Karin Schmidt-Friderichs: Krisen, Kriege, wirtschaftliche Entwicklungen und Zölle beeinflussen Lizenzgeschäfte stark. Wir verkaufen seit dem Angriff auf die Ukraine keine Lizenzen mehr nach Russland, wir bekommen plötzlich Ärger mit einem chinesischen Co-Publisher, weil der Auslober eines internationalen Designwettbewerbs einen Chairman in Taiwan hat – und das auch so ins Impressum schreibt. Publishing ist immer politisch.
Slava Svitova: Für mich bedeutet internationale Zusammenarbeit Solidarität. Gerade jetzt, wo die Ukraine einen Krieg durchlebt, helfen uns kulturelle Partnerschaften, uns gesehen und unterstützt zu fühlen. Sie ermöglichen es uns auch, der Welt eine komplexere, menschliche Seite der Ukraine jenseits der Schlagzeilen zu zeigen.
Gibt es Stimmen aus der Ukraine, die in Deutschland zu wenig Gehör finden?
Karin Schmidt-Friderichs: Ja – Stimmen, Themen und Perspektiven aus der Ukraine können gar nicht genug Gehör finden. Nur wenn wir das Bewusstsein für die Autonomie der Ukraine präsent halten, werden wir in der deutschen Bevölkerung weiter die Solidarität mit der Ukraine sicherstellen – und damit die politische und militärische Unterstützung.
Slava Svitova: Ich glaube, dass der ukrainische Feminismus im Ausland nach wie vor weitgehend unterrepräsentiert und oft missverstanden wird. Er war schon immer eng mit den Ideen von Freiheit, Würde und dem Schutz der Staatlichkeit verflochten.
Wir haben zwei aktuelle Bücher, die den ukrainischen Feminimus perfekt veranschaulichen: „Feminists Despite Themselves: Women in Ukrainian Community Life 1884–1939” von Martha Bohachevsky-Chomiak und „Fearless: Ukrainian Feminism in Interviews” von Tamara Martseniuk.
Ein deutscher Journalist erzählte mir mal, dass der Krieg ukrainische Männer zu Kriegern und ukrainische Frauen zu Hausfrauen gemacht hätte. Aber ukrainische Frauen waren nie nur Hausfrauen – schon gar nicht in Kriegszeiten. Sie gründen und leiten Wohltätigkeitsorganisationen, Freiwilligennetzwerke, liefern humanitäre Hilfe aus dem Ausland, kümmern sich um ältere Menschen und heimatlose Tiere, setzen sich international für ihre Belange ein, spenden, gründen Start-ups, eröffnen Unternehmen, ziehen Kinder groß und treten politischen Parteien bei, um die richtigen Entscheidungen voranzutreiben. Viele dienen auch in der Armee – als Drohnenpilotinnen oder als Sanitäterinnen.
Das sind die Frauen, von denen ich mir wünsche, dass die Welt mehr über sie wüsste.
Wie lässt sich kulturelle Übersetzungsarbeit jenseits der Sprache leisten?
Karin Schmidt-Friderichs: Der diesjährige Friedenspreisträger Karl Schlögel weist uns da den Weg: Reisen! Mit Menschen sprechen! Zuhören! Genau beobachten! Neugierig und offen, unvoreingenommen und voller Respekt vor anderen Kulturen und ihren Eigenheiten. Empathisch und im Bewusstsein, dass wir alle Fremde sind – fast überall.
Slava Svitova: Kulturelle Übersetzung geht weit über Sprache hinaus. Wie Oksana Zabuzhko – eine der einflussreichsten zeitgenössischen ukrainischen Schriftstellerinnen und Philosophinnen – einmal sagte, ist es beim Verfassen eines Sachbuchs, das für westliche Leser übersetzt werden soll, entscheidend, den Kontext zu vermitteln: den kulturellen, historischen und emotionalen. Die Rolle des Autors besteht nicht nur darin, eine Geschichte zu erzählen, sondern auch zu erklären, zu lehren und zu beleuchten – um den Lesern zu helfen, die Ukraine und ihre Bevölkerung wirklich zu verstehen, russische Narrative zu entkräften und authentische ukrainische Narrative zu schaffen.
Ein Buch kann die Tür öffnen, aber echtes Verständnis entsteht oft erst durch den Dialog. Deshalb ist es ebenso wichtig, Diskussionen, öffentliche Vorträge und Lesungen rund um ein Buch zu organisieren. Ein gutes Gespräch offenbart immer neue Bedeutungsebenen, erweckt den Kontext zum Leben und baut Brücken zwischen den Kulturen.
© Creative Women Publishing und Gaby Gerster
Slava Svitova ist Mitgründerin des ukrainischen Verlags Creative Women Publishing und des kreativen Frauennetzwerks Creative Women Space. Creative Women Publishing ist mehr als ein Verlag – es ist eine Bewegung. Gegründet von sieben ukrainischen Frauen, die mit ihren Büchern Tabus brechen, Stimmen stärken und eine neue Gemeinschaft des Lesens schaffen. Für ihre herausragende Arbeit wurden sie beim ukrainischen Chytomo Award for Outstanding Achievements in Publishing mit dem Frankfurter Buchmesse Sonderpreis ausgezeichnet und waren daher auf der FBM25 erstmals mit einem Stand vertreten.
Slava Svitova arbeitet außerdem selbst als Autorin und unterstützt angehende Autor*innen dabei ihr kreatives Potenzial zu entfalten und sie sichtbar zu machen.
Karin Schmidt-Friderichs ist Verlegerin und Markenexpertin. Nach ihrem Architekturstudium gründete sie 1992 gemeinsam mit ihrem Mann den Verlag Hermann Schmidt, der heute international für herausragende Gestaltungstitel bekannt ist. Dort verantwortet sie Programmplanung, Marketing und Vertrieb. Für ihr verlegerisches Engagement erhielt sie u. a. den Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz sowie den Antiquaria-Preis. Schmidt-Friderichs war in zahlreichen Ehrenämtern der Buchbranche aktiv – unter anderem als Vorstandsvorsitzende der Stiftung Buchkunst. Von 2019 bis 2025 war sie Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und führte den Verband durch zentrale Transformationsprozesse.