„Jedes zweite Buch ist eine Mogelpackung. Abhilfe versprechen die Lesemotive.“
Bedürfnis sucht Buch: Mit Perspektivwechsel zum Perfect Match
Bei der Kundenbindung ist es wie in der Liebe: Geweckte Erwartungen müssen erfüllt werden, sonst heißt es Frust statt Lust und aus Buchkäufern werden Abwanderer – sprich: sie gehen dem Markt dauerhaft verloren. Denn der Effekt von Mogelpackungen – also Titeln, die in der Vermarktung „falsche“ Kundenbedürfnisse ansprechen – ist nachhaltig. Betroffen ist derzeit jedes zweite Buch!
Abhilfe versprechen die Lesemotive des Technologie- und Informationsanbieters MVB, der Teil der Börsenvereinsgruppe ist. Im Interview mit Stephanie Lange haben wir darüber gesprochen, wie die Buchbranche mit diesem neuen Standard zur Klassifizierung von Büchern bewusst unbewusst zum Beziehungsstifter wird und wie andere Industrien von den aktuellen Erkenntnissen profitieren können.
© privat
Liebe Stephanie, Du bist im Auftrag von MVB als Botschafterin für die Lesemotive im Einsatz. Was sind Deine Aufgaben?
Ich habe die Entwicklung der Lesemotive schon während der Marktforschung als externe Projektmanagerin begleitet. Seit dem offiziellen Start des daraus abgeleiteten Klassifizierungsstandards für Bücher im Rahmen der Frankfurter Buchmesse – Special Edition 2020 betreue ich die Markteinführung. Das heißt, ich stelle das Thema regelmäßig öffentlich vor, bin erste Ansprechpartnerin für alle inhaltlichen Fragen aus der Branche und kümmere mich um den Vertrieb der Studienergebnisse und der darauf aufbauenden Beratungsmodule.
Was verbirgt sich hinter den Lesemotiven und welche Ziele verfolgt MVB damit?
Ausgangspunkt war die Frage, wie wir als Branche mehr Orientierung im Bücherdschungel schaffen können. Denn wie die „Quo vadis?“-Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels eindrücklich belegt hat, gehen dem deutschen Buchmarkt massenhaft Käuferinnen und Käufer verloren. Ein zentrales Motiv ist dabei die Unübersichtlichkeit unseres Angebots. Das betrifft im besonderen Maß die Menschen, die Inspiration suchen statt gezielt einzukaufen.
Deshalb haben wir von MVB zusammen mit der Gruppe Nymphenburg einen neuen Ansatz gewählt, um unsere Kundinnen und Kunden besser zu verstehen. Ziel war es, die unbewussten Bedürfnisse, die kaufentscheidend sind, zu systematisieren und für die gezielte Ansprache nutzbar zu machen. Herausgekommen ist ein Set aus drei generischen und zehn spezifischen Lesemotiven, denen sich Bücher zuordnen und dadurch besser beschreiben lassen. Das funktioniert dann besonders gut, wenn man diese Merkmale mit den bestehenden Parametern, wie Warengruppe und Genre, thematischen Zuordnungen, aber auch Zielgruppen kombiniert.
Bei MVB haben wir uns auf die Fahnen geschrieben, Bücher sichtbar zu machen. Als zentrale Schnittstelle für den Austausch von Produktinformationen (Metadaten) auf Basis internationaler Standards wollen wir Verlagen und Buchhandlungen ein Werkzeug für eine optimierte Vermarktung von Büchern an die Hand zu geben. Für Kundinnen und Kunden wird es so leichter, schnell und treffsicher zum „richtigen“ Buch zu gelangen. Wir schaffen also ein Stück Infrastruktur für das Suchen und Finden von Büchern.
Künstliche Intelligenz spielt bei dieser Standardisierung eine entscheidende Rolle. Wie kommt sie bei den Lesemotiven zur Anwendung?
Entscheidend für eine nachhaltige Marktdurchdringung ist der Skalierungseffekt. Der neue Standard muss schnell und möglichst flächendeckend entlang der gesamten Wertschöpfungskette genutzt werden, um sein volles Orientierungs- und damit Absatzpotential entfalten zu können.
Deshalb setzen wir gemeinsam mit unserem Partner QualiFiction bei der Zuordnung der Lesemotive auf die Hilfe der künstlichen Intelligenz. Diese greift auf die vorhandenen Metadaten der rund 2,5 Millionen Titel in unserem Verzeichnis Lieferbarer Bücher (VLB) zurück, um das dominante Hauptlesemotiv und mögliche Nebenlesemotive zu ermitteln und dieses als Anreicherung der Datensätze automatisiert im VLB auszuspielen.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Bereits im laufenden Jahr werden die Lesemotive für alle relevanten Titel im VLB zur Verfügung stehen. Im Moment lernt die KI noch, das heißt wir nehmen gerade gemeinsam mit einem Team von Expertinnen und Experten letzte Feinjustierungen vor, um im nächsten Schritt das Feedback der Verlage einzuholen.
Parallel stellen wir die Lesemotive weiterhin regelmäßig vor und sind mit vielen Partnern im Gespräch, um erste Praxisbeispiele für die Anwendung des Standards zu erarbeiten. Das reicht von der Produktentwicklung und -positionierung in den Verlagen bis hin zur Präsentation in den verschiedenen Handelskanälen.
Wie lautet Dein Rat an Verlage und Buchhandlungen, die die Studienergebnisse anwenden möchten?
Setzt Euch intensiv mit den Lesemotiven auseinander, es lohnt sich! Denn das Thema hat weitreichende Implikationen für das Geschäft von Verlagen und Buchhandlungen, ist aber auch komplex. Wer hier Patentrezepte nach Baukastenprinzip sucht, wird schnell enttäuscht sein. Denn man muss das Prinzip Lesemotiv in seiner gesamten Bandbreite verstanden haben, um die richtigen Schlussfolgerungen für das eigene Unternehmen zu ziehen und individuelle Ansatzpunkte zu erkennen.
Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass man gleich das ganz große Rad drehen muss. Auch mit sehr überschaubarem Aufwand kann man den Effekt der Lesemotive testen. Egal wie, muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass der Einstieg bestehende Prozesse verändert. Mit unseren Beratungsmodulen bieten wir entsprechende Hilfestellungen für einen gelungenen Start. Am Ende geht es dann aber auch schlicht und einfach ums Ausprobieren.
So hat es zum Beispiel der Buchhandelsfilialist Reuffel gemacht, der für das vergangene Weihnachtsgeschäft kurzfristig einen eigenen Geschenkefinder (www.reuffel.de/geschenkefinder(Öffnet neues Fenster)) auf Basis der Lesemotive für seinen Online-Shop entwickelt hat.
Für kreative Ideen habe ich jederzeit ein offenes Ohr.
Kann man die Erkenntnisse rund um den neuen Lesemotiv-Standard auch auf andere Branchen anwenden, wie zum Beispiel die Film- und Spieleindustrie?
Meiner Meinung nach sollten sich alle Kreativbranchen auf den Perspektivwechsel einlassen und weniger vom Produkt, sondern vorrangig vom Kunden her denken. Denn unbewusste Bedürfnisse sind dort natürlich genauso vorhanden und wollen bedient werden.
Die Lesemotive sind zwar nicht eins zu eins übertragbar, weil sie sich ja auf das Lesen und den Buchkauf beziehen. Aber das neurowissenschaftliche Prinzip, das diesen Bedürfnis-Clustern zugrunde liegt, ist ein spannender Ausgangspunkt für spezifische Vermarktungsstrategien in allen Kreativbranchen. Wenn sich daraus praktisch nutzbare und quantitativ bewertbare Maßnahmen wie im Fall der Lesemotive ableiten lassen, dann birgt das auch jenseits der Buchbranche große Chancen für Kundenbindung und Umsatz.
Über einen entsprechenden Austausch würden wir uns auf jeden Fall sehr freuen!
Vielen Dank für das Interview, Stephanie!
Das Interview wurde von Luisa Wagner, Frankfurter Buchmesse, geführt.
Über die Lesemotive
© Dusan Petkovic
Weitere Informationen zu Standard, Studienergebnissen und Beratungsangebot (auf Deutsch): www.lesemotive.de(Öffnet neues Fenster)
Über Stephanie Lange
Stephanie Lange ist eine der renommiertesten Spezialistinnen für Vermarktungs- und Vertriebsthemen im deutschsprachigen Buchmarkt. Mehr als 20 Jahre arbeitete sie als Führungskraft bei Verlagen und Händlern, bevor sie sich 2017 als Beraterin und Coach selbständig gemacht hat. Dank ihrer Erfahrungen auf Handels- und Lieferantenseite ist sie die richtige Ansprechpartnerin für alle Fragen rund um die Customer Journey im Buchhandel.
www.stephanie-lange.net(Öffnet neues Fenster)
Das Interview entstand im Rahmen des EU-Projekts Digital Cross Over.
Das Interview ist Teil der Digital Cross Over Interviewreihe zu aktuellen Trends, Herausforderungen und Best Practises der europäischen Kultur- und Kreativindustrien.
Digital Cross Over wird unter der Leitung des IMZ International Music + Media Centre in Kooperation mit Ars Electronica, der Börsenvereinsgruppe, Centrica und izneo im Rahmen des Förderprogramms Creative Europe der Europäischen Kommission durchgeführt. Ziel des Projekts ist es, die aktuellen Herausforderungen für die Kreativ- und Kulturwirtschaft aufzuzeigen und zu erforschen: Wer bezahlt für die Inhalte, die von Kultur- und Kreativschaffenden erstellt werden? Wie erreiche ich meine Zielgruppe im digitalen Zeitalter und wie kann ich von Akteuren aus anderen Branchen lernen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen oder standen?
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