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Ágnes Nemes Nagy: Mein Hirn: Ein See

22. Oktober 2022
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Saalbau Gutleut, Rottweiler Str. 32, 60327 Frankfurt am Main

"Mein Hirn: Ein See". Vier Wörter und ein Satzzeichen, die so viel anrichten, wenn man über sie nachdenkt. In welchem Zusammenhang stehen sie? Sagt das Hirn, dass es gerade einen See erkennt. Oder sagt das Hirn über sich, dass es ein See sei. Oder stehen hier zwei unvereinbare Gegensätze? Schon beim Titel öffnet sich die bedeutungsvolle Welt von Ágnes Nemes Nagy.

"Dennoch schauen, schauen / Schauen sagte sie, weißt du / wie eine Narbe am Baum". Sie schauen uns an, die Metalle, Monster, Seen, Bäume und Narben in den Gedichten von Ágnes Nemes Nagy, die im Januar 2022 einhundert Jahre alt geworden wäre. Franz Fühmann nannte die ungarische Dichterin eine "Königin der magyarischen Poesie" und forderte bei der ersten deutschsprachigen Ausgabe ihrer Gedichte: "Die Buchhandlungen und Bibliotheken sollten flaggen, mit Bannern und Wimpeln und Standarten, in den Traumfarben der Poesie." Blickt man auf das Gesamtwerk, so zeigt sich darin eine ganze Kosmologie von Sprechweisen. Organische und anorganische Objekte werden zu Akteuren. Das lyrische Ich dieser Texte ist nicht Deutungszentrum, sondern schmerzempfindliche Membran, "Erinnerung der Erde", zufälliger Kreuzungspunkt, Echo oder Spiegelreflexion. Viele dieser Gedichte lesen sich wie Lehrstücke zum Verlernen der abendländischen Subjektivität, wie Anleitungen hin zu einem anderen Blick, einem Blick vom Anderen, Nicht-Menschlichen aus.

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